SZ.de: Hunderte Tote an einem Tag, Tausende jedes Jahr - warum sterben so viele Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren? Wer ist dafür verantwortlich?
Giampaolo Musumeci: Nicht allein die Schleuser tragen die Verantwortung, wir alle sind schuldig. Es ist ein strukturelles Problem: Die EU ist dort nicht präsent, wo diese Menschen Hilfe bräuchten. Der Tod dieser Menschen liegt in der Verantwortung Europas.
Sie sind Autor eines Buchs über die Schleuserindustrie und sehen diese Menschen als nicht verantwortlich an?
Die Schleuser sind Geschäftsleute. Ich möchte sie nicht in Schutz nehmen, aber sie erfüllen mit ihrem Angebot eine Nachfrage. Und diese Nachfrage ist enorm groß. Die Flüchtlinge wollen raus aus ihren Heimatländern, sie wollen in Sicherheit leben. Aber diesem Hilferuf begegnet die EU in keinster Weise. Wir bieten ihnen keine Möglichkeit, legal hier Asyl zu beantragen. Obwohl beispielsweise Syrer ein Recht darauf haben. Aber selbst ihnen muten wir zu, illegal einreisen zu müssen - und dafür noch Tausende Euro an Schleuser zahlen zu müssen.
Giampaolo Musumeci ist als Fotograf, Journalist und Dokumentarfilmer auf das Thema Immigration spezialisiert. Zusammen mit Andrea Di Nicola hat er das Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers" (Verlag: Kunstmann) veröffentlicht, für das die beiden entlang der Hauptrouten illegaler Immigration recherchiert haben. Das Buch lässt Anwerber, Skipper, Vermieter illegaler Unterkünfte und Geldhändler zu Wort kommen und zeichnet die Strukturen hinter dem Geschäft mit den Flüchtlingen nach.
Die Fahrt über das Mittelmehr ist nicht nur teuer, sondern auch gefährlich. Wie viel Geld fließt in die Schleuserindustrie?
Mein Ko-Autor Andrea Di Nicola und ich kommen in unseren Berechnungen zu dem Schluss, dass wohl jedes Jahr 500 Millionen Euro allein für die Reisen auf der Mittelmeer-Route bezahlt werden. Wie viel ein einzelner Flüchtling bezahlt, hängt ab vom Land, von der Route und von der Qualität des Bootes. Eine Überfahrt von Libyen nach Lampedusa kostet beispielsweise 3000 Euro. Wohin das Geld danach fließt, lässt sich nicht nachvollziehen. Es könnte beispielsweise in Waffenkäufe oder an terroristische Organisationen gehen.
Wo sitzen die Hintermänner?
Häufig finden wir sie in den Metropolen, in Istanbul, Rom, Tripolis. Sie führen ihre Netzwerke wie die Manager multinationaler Konzerne: Oft waren sie selbst früher Taxifahrer oder Fischer, dann haben sie sich eine kleine Flotte angeschafft und Subunternehmer angeheuert, die jetzt ihre Boote fahren. Das Netzwerk ist weit verzweigt: Es sind auch Leute dabei, die die Polizei schmieren, solche, die Papiere fälschen, und Vermieter, die die Flüchtlinge eine Zeit lang in ihren Wohnungen verstecken. Hinzu kommen bewaffnete Wachen und Schutzleute. Der Chef koordiniert all diese Bewegungen und begreift sich selbst als eine Art Reiseunternehmer, der für einen möglichst reibungslosen Ablauf sorgt.
Wie werben die Schleuser um ihre Kunden?
Das hängt vom Land ab. Manchmal werben die Schleuseragenturen sogar auf Facebook für ihre Dienste. In Libyen hingegen genügt ein Gang zum Hafen, dort findet man die Vermittler.