Süddeutsche Zeitung

Asylpolitik:Viele Papiere, kein Konsens

Die EU-Staaten finden in der Flüchtlingsfrage zu keiner Einigung: Auch Kompromisse werden blockiert.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Was die Zukunft der gemeinsamen Flüchtlingspolitik betrifft, ist die Europäische Union in eine Sackgasse geraten. Das wurde beim Treffen der EU-Innenminister am Donnerstag in Brüssel deutlich. Für das wichtigste Vorhaben, eine Reform des gemeinsamen Asylsystems, die auf einer solidarischen Verteilung der Flüchtlinge basiert, zeichnet sich weiterhin keine Lösung ab, die für alle Staaten akzeptabel sein könnte. Eine Einigung, die eigentlich für die erste Jahreshälfte geplant war, ist nach Einschätzung eines EU-Diplomaten nicht zu erreichen. "Wir kommen nicht recht weiter", sagte er. Damit bleibt es vorerst auch bei der markanten Ost-West-Spaltung in der Union.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière äußerte dennoch die Hoffnung, bis zum nächsten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs Ende Juni wenigstens "Eckpunkte" erarbeiten zu können. Man müsse sich auf weniger kontroverse Themen konzentrieren. "Dann fällt eventuell die Einigung über die sehr schwierige Verteilung leichter, wenn man sich über die anderen Fragen verständigt hat", sagte er am Rande des Treffens.

Die EU-Staaten suchen weiter einen Weg, wie sie nach den Erfahrungen mit der großen Flüchtlingskrise 2015 künftig auf einen größeren Andrang von Migranten reagieren wollen. Knackpunkt ist die Frage, inwiefern es Staaten gestattet sein sollte, sich jeglicher Aufnahme von Flüchtlingen zu entziehen. Die Europäische Kommission, Deutschland und andere lehnen dies aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Im Gegenlager befinden sich die osteuropäischen Staaten, einschließlich Lettlands und Litauens, die alle auf den Widerstand in ihrer Bevölkerung verweisen und sich von "Brüssel" keine Aufnahmequote vorschreiben lassen möchten. Während die meisten dieser Staaten allerdings zumindest Ansätze von Kompromissbereitschaft erkennen lassen, leistet Ungarn laut EU-Diplomaten Fundamentalopposition. Wie ihren Vorgängern gelinge es auch der maltesischen EU-Ratspräsidentschaft trotz ständigen "Fortschreibens von Papieren" nicht, den "Konsens zu verbreitern".

Malta hatte für Krisenzeiten ein "Solidaritätspaket" vorgeschlagen. Demnach dürften Staaten wählen: Nehmen sie weniger Flüchtlinge auf, als ihnen zugewiesen wurden, müssten sie mehr Beamte und Material für den gemeinsamen Grenzschutz abstellen. Außerdem müssten sie pro nicht aufgenommener Person binnen fünf Jahren 60 000 Euro zahlen. Länder, die mehr Migranten akzeptieren, würden pro Person in gleicher Höhe entschädigt. Die Option, überhaupt niemanden aufnehmen, sich mithin vollkommen "freikaufen" zu können, ist allerdings nicht vorgesehen. Auf Botschafter- und Ministerebene wird derzeit versucht, diverse politische und finanzielle Aspekte und Ausgleichsmechanismen in einen Topf zu werfen, um über die Lösung von Detailfragen auch beim Grundsatzstreit voranzukommen.

Fortschritt erhofft sich de Maizière nach eigener Aussage zunächst bei der Verhinderung von "Sekundärmigration", der effizienteren Rückführung von Flüchtlingen und der damit verbundenen Frage, wie mit Migration aus sicheren Dritt- oder Herkunftsstaaten umzugehen ist. Deutschland schwebt vor, solche Staaten künftig unter Umständen schon dann als "sicher" zu bezeichnen, wenn sie nur ein absolutes Minimum an "sicheren und humanen Lebensbedingungen" gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention gewähren. Dann wäre auch die Abschiebung in bisher als nicht sicher geltende Staaten oder Teile von Staaten möglich, etwa in Afrika. Malta hat diesen Gedanken in einem Diskussionspapier für die Minister aufgegriffen.

Offen ist auch, wer in Zukunft zu den Flüchtlingen gezählt werden soll, die aus Griechenland und Italien umverteilt werden: Nimmt man die Migranten aus "sicheren" Staaten davon aus, müssen die belasteten Länder an der Außengrenze mit sehr viel mehr Migranten selbst zurecht kommen. Nach dieser Logik hat die EU-Kommission im April die Anzahl der gemäß aktueller Beschlüsse noch umzuverteilenden Flüchtlinge radikal reduziert. Von ursprünglich 160 000 und später 98 000 bleiben so nur etwa 33 000 "für die Umverteilung geeignete" Flüchtlinge übrig. Davon sind nach neuesten Zahlen 18 400 aus Griechenland und Italien ausgeflogen worden. Nur Finnland und Malta hätten ihr Soll erfüllt, erklärte die Kommission am Dienstag und drohte vor allem Ungarn, Polen und Österreich, die bisher überhaupt nicht mitmachen, mit rechtlichen Schritten.

Eben dies forderte am Donnerstag auch das EU-Parlament in einer Entschließung. Außerdem müsse die Umverteilung auch nach dem Ablauf der Beschlüsse im September fortgesetzt werden. "Mitgliedstaaten, die die Flüchtlingsverteilung boykottieren, dürfen mit ihrer Solidaritätsverweigerung nicht davonkommen", sagte Ska Keller (Grüne).

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SZ vom 19.05.2017
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