Süddeutsche Zeitung

Asylpolitik:Total verschätzt

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Entgegen der Prognosen von Bundesinnenminister Horst Seehofer zieht es nur wenige Angehörige von Flüchtlingen nach Deutschland. Erwartet wurden bis zu 300 000, tatsächlich sind seit August 2018 bisher nur 32 000 Menschen.

Von Bernd Kastner,KNA, München

Die Zahl der Familienangehörigen, die zu Flüchtlingen mit subsidiärem Schutzstatus in Deutschland nachziehen wollen oder bereits gekommen sind, ist deutlich geringer als ursprünglich von der Bundesregierung erwartet. Laut aktuellen offiziellen Zahlen sind es insgesamt rund 32 000 engste Verwandte, die seit August 2018 ein Visum bekommen haben oder noch darauf warten. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte dagegen mit bis zu 300 000 Angehörigen gerechnet; andere Unionspolitiker hatten vor noch höheren Zahlen gewarnt. Der mehr als zwei Jahre lang unterbundene Nachzug engster Verwandter zu subsidiär Geschützten, darunter sehr viele Syrer, war einer der Streitpunkte während der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD.

Für humanitäre Härtefälle wurden seit Ende 2018 nur drei Visa vergeben

Seit August vergangenen Jahres dürfen monatlich maximal 1000 Personen legal nachziehen. Seither wurden gut 11 000 Visa erteilt, knapp 21 000 Angehörige warten noch auf die Papiere. Im August und September wurde das Kontingent von 1000 gar nicht ausgeschöpft, es wurden jeweils weniger als 800 Visa vergeben. Aufgrund der humanitären Härtefallregelung wurden zuletzt kaum mehr Visa vergeben: Seit Ende 2018 waren es drei.

Diese Zahlen nennt das Innenministerium auf eine Anfrage der Linksfraktion. Diese sieht darin den Beleg, dass die Union mit völlig übertriebenen Prognosen gearbeitet habe. Die innenpolitische Sprecherin der Linken, Ulla Jelpke, kritisiert die Bundesregierung für ihre Nachzugspolitik: "Die Angehörigen befinden sich seit Jahren in einer verzweifelten Situation, ihr Schicksal ist der Koalition, die sich von rechten Populisten hat treiben lassen, aber offenkundig egal." Insbesondere sieht Jelpke die SPD in der Pflicht, ihre Zusagen für eine humanitäre Nachzugspolitik umzusetzen. Das SPD-geführte Auswärtige Amt von Heiko Maas ist das Nadelöhr bei der Visavergabe, es gibt lange Wartezeiten für Termine bei den deutschen Auslandsvertretungen.

Noch immer nicht geklärt hat die Bundesregierung, ob in Deutschland ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom April 2018 umgesetzt wird. Die Richter hatten entschieden, dass anerkannte jugendliche Flüchtlinge auch dann ihre Angehörigen nachholen dürfen, wenn sie während des Asylverfahrens volljährig geworden sind. Weil sich das Urteil auf einen Fall aus den Niederlanden bezieht, hält es die Bundesregierung für nicht auf Deutschland übertragbar; sie will weitere Urteile deutscher Gerichte abwarten.

Die Hilfsorganisation Unicef fordert, das Wohl von Kindern in Asyl- und Rückkehrprozessen stärker zu berücksichtigen. "Jede Entscheidung über den Aufenthaltsstatus bestimmt fundamental das weitere Leben der Kinder", sagte der Geschäftsführer von Unicef Deutschland, Christian Schneider, in Köln. Ein neuer Bericht des UN-Kinderhilfswerks zeige, dass auch in Deutschland das Wohl von Kindern bei solchen Entscheidungen noch nicht umfassend oder vorrangig berücksichtigt werde.

Kinderspezifische Fluchtursachen wie eine drohende Rekrutierung als Kindersoldat oder Zwangsheirat würden in der persönlichen Anhörung im Asylverfahren beispielsweise nicht obligatorisch abgefragt, heißt es in dem Bericht "Child-sensitive return".

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Quelle:
SZ vom 07.11.2019
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