Süddeutsche Zeitung

Asylpolitik:Immer noch unentschieden

Bundesregierung sitzt europäisches Urteil zugunsten junger Flüchtlinge aus.

Von Bernd Kastner

Im April ist es ein Jahr her, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil verkündet hat, das für die Bundesregierung unbequem ist. Dies dürfte der Grund sein, warum Berlin seit einem Jahr noch nicht entschieden hat, ob Deutschland den Spruch der obersten europäischen Richter umsetzen soll oder nicht. Das Urteil besagt, dass ein anerkannter Flüchtling auch dann das Recht hat, seine Eltern nachzuholen, wenn er während des Asylverfahrens volljährig geworden ist. Damit soll verhindert werden, dass der Elternnachzug daran hängt, wie schnell die Asylbehörden arbeiten. In Deutschland ist genau dies noch Praxis: Wer zum Zeitpunkt der möglichen Einreise seiner Eltern 18 ist, hat Pech und sieht seine nächsten Angehörigen womöglich für lange Zeit nicht mehr.

Die Ministerien stimmen sich noch ab, während Richter den Spruch längst anwenden

"Die Abstimmungen innerhalb der Bundesregierung (...) sind noch nicht abgeschlossen", antwortete jüngst im Bundestag der Parlamentarische Staatssekretär im Innenministerium, Marco Wanderwitz (CDU), auf eine Frage von Ulla Jelpke (Linke). Weiter gilt also die Weisung des Auswärtigen Amtes vom September an alle Visastellen: "Das Urteil des EuGH entfaltet für Deutschland keine Bindungswirkung". Grund sei, dass sich der EuGH-Spruch auf einen Fall aus den Niederlanden beziehe, wo der Nachzug anders geregelt sei.

Während die deutschen Ministerien unter Federführung des Innenressorts versuchen, sich abzustimmen, wenden die für Visavergaben entscheidenden Richter am Verwaltungsgericht (VG) Berlin und am Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg den EuGH-Spruch längst an. Drei Entscheidungen des VG und mehrere des OVG gingen zugunsten der Flüchtlinge aus. Immer berufen sich die deutschen Richter auf ihre Kollegen in Luxemburg.

Nun könnte die klare Linie der Gerichte Richtschnur für die deutsche Regierung sein - ist sie aber nicht. Wanderwitz verweist darauf, dass das OVG bisher nur in Eilverfahren, noch nicht aber in Hauptsacheverfahren entschieden habe. Das VG Berlin wiederum hat in einem Verfahren die Sprungrevision zugelassen, also den direkten Gang zum Bundesverwaltungsgericht. Inzwischen geht die Bundesregierung laut einer Sprecherin des VG Berlin ebendiesen Weg der Sprungrevision - "um die Rechtsfragen möglichst schnell höchstrichterlich klären zu lassen". So begründete Wanderwitz das Agieren der Regierung. Es dürften noch viele weitere Monate vergehen, ehe Rechtssicherheit herrscht.

"Unerträglich" nennt Ulla Jelpke die "Rechtsverweigerungsstrategie" der Regierung. Sie ignoriere ein höchstrichterliches Urteil, "um noch an den Schwächsten der Schwachen - geflüchteten Kindern und Jugendlichen - das Prinzip der Abschreckung zu vollziehen". Relevant ist der Streit für mehrere Hundert junge Flüchtlinge. 2018 wurden bis November 650 anerkannte Geflüchtete während des Asylverfahrens volljährig.

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Quelle:
SZ vom 28.03.2019
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