Asylpolitik:Die EU am Tiefpunkt? Falsch! Es kann noch viel schlimmer kommen

Asylpolitik: Die Situation der Flüchtlinge im griechischen Idomeni steht sinnbildlich für die Krise der Europäischen Union. Der Gegensatz in der Flüchtlingskrise zwischen Willkommenskultur auf der einen und Zurückweisung auf der anderen Seite ist nur eines der ungelösten Probleme.

Die Situation der Flüchtlinge im griechischen Idomeni steht sinnbildlich für die Krise der Europäischen Union. Der Gegensatz in der Flüchtlingskrise zwischen Willkommenskultur auf der einen und Zurückweisung auf der anderen Seite ist nur eines der ungelösten Probleme.

(Foto: AP)

Die Union steht vor dem möglichen Brexit, steuert auf einer neuerliche Euro-Krise zu und hat ihre Zerrissenheit angesichts der Flüchtlingskrise keineswegs überwunden. Alles kann kippen.

Kommentar von Thomas Kirchner

Mit fast schon derber Ironie gelingt es Jean-Claude Juncker immer wieder, den Zustand der Europäischen Union treffend zu beschreiben. "Wir können noch besser werden, als wir es sind", sagte der Präsident der EU-Kommission bei der Verleihung des Karlspreises an den Papst. "Wir können eigentlich nur noch besser werden, als wir es sind."

Leider liegt er falsch. Es kann noch viel schlechter werden. Die EU steht kurz vor dem möglichen Austritt eines ihrer wichtigsten Mitglieder, des Vereinigten Königreichs. Sie steuert auf eine abermalige Krise des Euro zu, weil die Probleme von Ländern wie Griechenland oder Portugal ständig aufs Neue die Konstruktionsfehler der gemeinsamen Währung offenbaren. Und sie hat die tiefen Auffassungsunterschiede, die in der Flüchtlingskrise zutage treten, keineswegs überwunden. Willkommenskultur und möglichst offene Grenzen auf der einen Seite gegen Zurückweisung und Zaunbau auf der anderen - wie lässt sich das auf einen gemeinsamen Nenner bringen?

Das Abkommen mit der Türkei verschafft der EU nur Zeit zum Durchschnaufen. Obwohl die Vereinbarung noch nicht halbwegs umgesetzt ist und obwohl sie politisch durchaus noch scheitern kann, hat die Kommission nun ihren Vorschlag für eine langfristige Reform der europäischen Asylpolitik präsentiert. Eigentlich mag das Thema derzeit niemand angehen. Als die EU-Innenminister es vor zwei Wochen erstmals besprachen, berichteten Teilnehmer von einer "verheerenden", ja "katastrophalen" Diskussion.

Europa ist zerstritten - auch die Kommission findet keine Lösung

Zugleich aber muss das System zur Aufnahme von Flüchtlingen geändert werden. Die Dublin-Regel, wonach in den meisten Fällen das Land, in dem ein Asylbewerber erstmals europäischen Boden betritt, für dessen Antrag und eventuelle Abweisung zuständig ist, funktioniert nicht. Sie überlastet die Staaten an der Außengrenze der EU, die darauf in Krisenzeiten mit Verweigerung reagieren. Im resultierenden Chaos schlagen sich dann die Flüchtlinge in einige beliebte Länder durch, die anderen können sich drücken.

Die Antwort der EU-Kommission auf dieses Problem hieß im vergangenen Jahr: Umverteilung per Quote. Jedes Land sollte Griechenland und Italien einen Teil der Flüchtlinge abnehmen, der sich nach Größe und Wirtschaftskraft bemaß und von Brüssel festgelegt wurde. Gegen diese Zuteilung erhob sich vor allem in Osteuropa enormer Widerstand. Zwar konnten die Quoten per Mehrheitsbeschluss durchgesetzt werden, das System als solches aber ist gescheitert. Es kam nicht in Gang, weil weder die betroffenen EU-Staaten noch die Flüchtlinge ein Interesse daran hatten.

Die Kommission hat ihre Idee nie hinterfragt. Stattdessen beschuldigte sie die Regierungen oder gab sich krampfhaft zuversichtlich. Im März versprach sie, künftig 6000 Flüchtlinge im Monat verschicken zu können. Einen Monat später waren es 200 mehr. Der neue Vorschlag der Kommission basiert, wenn man ihn zu Ende denkt, wieder auf dem Prinzip Quote und Umverteilung.

Die Konzentration sollte jetzt auf dem Pakt mit der Türkei liegen

Wird ein Staat wie Griechenland mit einem größeren Flüchtlingsandrang konfrontiert, als ihm zugeteilt wurde, soll ein Korrekturmechanismus greifen, der Solidarität erzwingt. Dann werden die Flüchtlinge in andere Länder geschickt, "automatisch". Kein Wunder, dass die Osteuropäer wieder auf den Barrikaden sind. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass der neue Vorschlag jemals Wirklichkeit wird. Brüssel-Hassern wie Viktor Orbán liefert er zusätzliches Futter, während beliebte Aufnahmeländer wie Schweden oder Deutschland angesichts der zu erwartenden politischen Blockade das Nachsehen haben werden. Griechenland übrigens hätte das neue System im Herbst 2015 kaum geholfen. Wieder hätten alle Migranten ihre Anträge in dem Außengrenzen-Staat stellen müssen - und wären wegen Überforderung schlicht weitergeschickt worden.

Wichtiger als ein Streit über unrealistische, überbürokratische Entwürfe wäre es jetzt, sich auf die Umsetzung des Türkei-Projekts zu konzentrieren. Denn die jüngste Krise ist nicht ausgestanden. Alles kann kippen, vieles liegt im Argen. Griechenland hat noch lange nicht die Expertenhilfe erhalten, die es braucht; beim jetzigen Tempo wird es Monate dauern, die Anträge der Flüchtlinge auf den Inseln korrekt zu bearbeiten, um sie in die Türkei zurückschicken zu können. Für die geplante Umsiedlung von Hunderttausenden aus türkischen Lagern existieren erst grobe Pläne.

Langfristig aber muss die EU da weitermachen, wo sie mit dieser Vereinbarung ansetzt: Schutzsuchenden direkt aus den Krisengebieten einen legalen, sicheren Weg nach Europa zu ermöglichen.

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