Süddeutsche Zeitung

Asylklagen:Wie Richter die Schlamperei des Bamf korrigieren

  • Bundesweit hat das Bamf im vergangenen Jahr mehr als 340 000 Anträge aus inhaltlichen oder formellen Gründen abgelehnt.
  • Im selben Zeitraum haben etwa 328 000 Flüchtlinge gegen ihren Bescheid Klage eingereicht.
  • In vielen Fällen bekommen die Geflüchteten recht - oft, weil die Entscheidungen der Behörde juristisch schlecht gemacht sind.

Von Jana Anzlinger und Juri Auel

Besida Megbele reibt sich die Augen und versucht, ihre Schluchzer runterzuschlucken. Während die Richterin ihr den Fehler erklärt, den die Asylbehörde gemacht hat, hält Megbele den Kopf gesenkt. Sie schaut die schwarze Handtasche auf ihrem Schoß an, ihre billigen Stoff-Sneaker, die rot lackierten Fußnägel der Dolmetscherin, die Englisch mit bairischem Akzent spricht, den braunen Teppichboden in dem kleinen Saal im Bayerischen Verwaltungsgericht München. "Das ist eine relativ komplizierte Rechtslage hier", sagt die Richterin.

Sie verhandelt heute den ganzen Vormittag Asylklagen - so wie die meisten der etwa 100 Richter im Haus. In mehr als drei Viertel der Fälle an diesem Gericht geht es um abgelehnte Asylanträge.

Fast jede Ablehnung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) landet vor Gericht. Das ist nicht nur in München so. Bundesweit hat das Bamf im vergangenen Jahr mehr als 340 000 Anträge aus inhaltlichen oder formellen Gründen abgelehnt. Im selben Zeitraum haben etwa 328 000 Flüchtlinge gegen ihren Bescheid Klage eingereicht.

In mehr als jedem dritten Fall, über den Gerichte inhaltlich entscheiden, wird der Bamf-Bescheid zugunsten der Antragsteller korrigiert. 2017 waren es fast 40 Prozent, im ersten Quartal 2018 ergingen 33 Prozent der Urteile zugunsten der Flüchtlinge. Eine häufige Begründung der Verwaltungsrichter ist, dass individuelle Umstände nicht geprüft wurden oder nicht in die Entscheidung eingeflossen sind. Mit anderen Worten: In Zehntausenden Fällen hat die Behörde geschlampt oder Fehler gemacht und ohne die Richter hätte es niemand korrigiert.

Die Nigerianerin Besida Megbele, die eigentlich anders heißt, ist über Italien in die EU eingereist, in Italien hatte sie auch eine Aufenthaltserlaubnis. Das hat sie dem Bamf schon 2016 so gesagt. Für ihren Asylantrag wäre dementsprechend eigentlich Italien zuständig. Dennoch hat sich das Bamf monatelang damit aufgehalten zu prüfen, ob sie in Nigeria wirklich in Lebensgefahr war, weil ihr Bruder und ihr Mann dort politische Oppositionelle sind. Ob sie wirklich ein Opfer von Genitalverstümmelung ist. Ob ihr Asthma und ihr hoher Blutdruck wirklich einer Abschiebung im Wege stehen würden.

Das Bamf entschied schließlich gegen sie. Megbele solle zurück nach Nigeria. Erst wenige Tage vor der Gerichtsverhandlung fand die Behörde das Dokument aus Italien wieder. Das heißt: Die deutsche Behörde hat etwas entschieden, was eigentlich den Italienern vorbehalten gewesen wäre. "Wir haben hier eine Sachentscheidung, die so nicht hätte erfolgen dürfen", sagt die Richterin.

Die Verfahren dauern durchschnittlich elf Monate

Die Münchner Anwältin Gisela Seidler verbringt viel Zeit mit Geflüchteten in Gerichtssälen. Sie hat sich auf Asylrecht spezialisiert, ist Vorsitzende des Ausschusses Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein. "Es kommt immer wieder vor, dass Gerichte das Bamf kräftig abwatschen", sagt sie. "Viele Bescheide sind einfach juristisch sehr schlecht gemacht, weil sie von unerfahrenen Mitarbeitern erstellt worden sind." Die Justiz sei ein wichtiges Korrektiv im Asylprozess.

Gerichte dürfen Entscheidungen jeder Behörde korrigieren. Beim Aufenthaltsrecht wird da keine Ausnahme gemacht. Seidler findet das gut so: "Das gehört zur Gewaltenteilung dazu - und ohne die gibt es keinen Rechtsstaat", sagt sie.

Megbele kramt nach einem Taschentuch. Das Bamf muss sich nun erneut mit ihr befassen. Vergeblich hat sie gehofft, dass es heute vorbei sein würde. Wenn die Behörde entscheidet, dass sie nach Italien abgeschoben werden soll, könnte sie erneut klagen. Ungefähr in einem Jahr würde sie dann wieder hier sitzen.

Die Gerichtsverfahren dauern durchschnittlich elf Monate. Wie sich so ein Verfahren hinziehen kann, erlebt auch Anwältin Seidler. Es kommt nicht selten vor, dass sie einen Fall über einen langen Zeitraum begleitet und etliche Kilometer zum Gericht fährt, ohne zu wissen, ob sie dafür überhaupt Geld bekommt. Denn weil den Flüchtlingen vermehrt Sachleistungen ausgegeben werden, haben viele kein Geld, die Anwältin zu bezahlen. Und Prozesskostenhilfe gebe es erst kurz vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung, der oft erst nach einem Jahr stattfinde. Deswegen macht es sie zornig, wenn Politiker Begriffe wie "Asyltourismus" und "Anti-Abschiebe-Industrie" verwenden.

Megbele verlässt das Verwaltungsgericht mit hängenden Schultern. Die Richterin macht nur eine kurze Pause, dann verhandelt sie den nächsten Fall. Im Saal nebenan kommt die Richterin hinter ihrem Pult hervor, um Spielzeugautos und Buntstifte zu verteilen. Sie hofft, dass sich Promise und Joseph damit während der Verhandlung ablenken können. Ihre Mutter, Grace Adesina, hat niemanden, der den Zweijährigen und den Vierjährigen betreuen könnte. Adesina ist mit dem Vater der Kinder aus Nigeria geflohen, doch die Beziehung hat nicht gehalten. Die Familie heißt in Wahrheit ebenfalls anders. Das Bamf hat ihre Anträge abgelehnt und droht Mutter und Kindern mit Abschiebung.

Dieses Gerichtsverfahren ist ihre letzte Chance, in Deutschland zu bleiben. Das ist für Anwältin Seidler das Hauptproblem des deutschen Asylsystems: Es gibt so gut wie keine Rechtsmittel, um die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts in Asylfragen anzufechten. Eine Instanz - und das war's. "In den meisten Fällen entscheidet ein Richter, der nur noch den Himmel über sich hat", sagt sie.

Grace Adesina gibt als Fluchtgrund an, die Mitglieder einer "secret society", einer Geheimorganisation, hätten sie gefangen gehalten. Es gibt in Nigeria mehrere solcher Gruppen, gut vernetzte Kulte, die Menschen mit schwarzer Magie drohen.

Ob Adesina wirklich von der Gruppe festgehalten und bedroht wurde, versucht die Richterin herauszufinden, indem sie die Klägerin nach Details fragt und immer wieder nachhakt. Wo war sie, als die Männer sie verschleppten? Wo wurde sie festgehalten? Wann genau drohten sie, ihr den Arm abzuschneiden? In welchem Gebäude wurde die Beschneidungszeremonie vorbereitet?

Schon früh zeichnet sich ab, dass die Sitzung länger dauern dürfte als die vorgesehene Dreiviertelstunde. Die enge Taktung der Fälle ist nicht unproblematisch. Einige Anwälte würden auf Beweisanträge verzichten, um den Terminplan nicht zu sprengen und es sich nicht mit dem Richter zu verscherzen, sagt Anwältin Seidler. Ihrer Auffassung nach bemühen sich die Gerichte sehr, die Arbeit ordentlich zu machen. Jedoch gebe es Richter, die besonders viele Fälle in einen Tag pressen. Dadurch werde es nahezu unmöglich, die oftmals schwierigen Sachverhalte umfassend aufzuklären - was dazu führe, dass die Vorsitzenden oft gegen den Kläger entschieden.

Obwohl wieder weniger Menschen in Deutschland Schutz suchen als 2015 und 2016, können die Richter "den Berg" nur verzögert abtragen, sagt Florian Schlämmer, Richter und Pressesprecher des Münchner Verwaltungsgerichts. 20 neue Richter sind extra für diesen Bereich angestellt worden, momentan ist eine weitere Kammer in der Planung. Trotz der Verstärkung, sagt der Pressesprecher, blieben Fälle aus anderen Bereichen liegen. "Zum Beispiel wurde über Baugenehmigungen früher in sieben Monaten entschieden, jetzt kann so ein Verfahren ein Jahr dauern", sagt Schlämmer.

Auch wenn sich die Zusammenarbeit zwischen Behörde und Gericht inzwischen eingespielt habe, ärgere man sich schon manchmal übers Bamf. "Wir sind dann auch Menschen", sagt der Richter. Was wäre, wenn andere Behörden genauso viele Fehler machen würden wie das Bamf? Schlämmer lacht herzlich über die Vorstellung.

Neue Richter dürfen nicht alleine Asylfälle verhandeln

Die Flüchtlingsbehörde ist der Ansicht, dass nichts gegen eine Rückkehr der Familie Adesina nach Nigeria spricht. Grace Adesina bekommt bei der Vorstellung Angst: Wo soll sie arbeiten? Wer kümmert sich um ihre Kinder? Sie hat bei ihrer Flucht den Norden des Landes gesehen, wo die Terroristen von Boko Haram gewütet haben. Um überhaupt eine Lebensgrundlage zu finden, müsste sie in ihre Heimatregion zurückkehren, wovor sie sich fürchtet. Die Geheimorganisation könne in ihrem magischen Spiegel sehen, wo sie sich aufhalte, glaubt Adesina. Wie riskant eine Rückkehr für sie tatsächlich wäre, lässt sich nicht einfach beantworten.

Während die Richterin die Grausamkeiten erfragt, die der Familie in Nigeria drohen, tobt Promise durch die leeren Reihen des Gerichtssaals, spielt mit den Autos und malt Spiderman. Sein kleiner Bruder Joseph schläft im Kinderwagen.

Verwaltungsrichter seien zwar keine Strafrichter, dennoch wüssten sie, wie man traumatisierte Zeugen richtig befragt, sagt Pressesprecher Schlämmer. Das bringe die Prozesserfahrung mit sich. Neue Richter dürfen ein halbes Jahr lang nicht alleine Asylfälle verhandeln, weil ihnen diese Erfahrung noch fehlt.

Jede der 30 Kammern beim Münchner Verwaltungsgericht ist auf bestimmte Länder spezialisiert. Das soll den Richtern ermöglichen, die Erzählungen der Geflüchteten bestmöglich einzuschätzen. Zudem, sagt Schlämmer, werde darauf geachtet, dass jeder Richter zumindest ab und zu den Fall eines Flüchtlings verhandelt - damit er das Fingerspitzengefühl nicht verlernt.

Promise versucht in seiner Langeweile, im Gerichtssaal Papierflieger zu basteln. Aus dem Kindergarten weiß er, wie die aussehen sollen. Er knittert und faltet ein paar DIN-A4-Blätter in eine undefinierbare Form und wirft sie in die Luft. Währenddessen plappert er vor sich hin, auf Deutsch. Promise liebt Flugzeuge, neulich hat er ein besonders großes gesehen. Er würde zu gern selbst mal an einem der kleinen Fenster sitzen und alles von oben sehen. Ob er bald gezwungen wird, in ein Flugzeug zu steigen, erfährt die Familie heute noch nicht. Die Richterin trifft die Entscheidung nach der Sitzung. Die Urteilsbegründung kommt dann per Post. Wie es am Verwaltungsgericht so üblich ist.

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