Urteil gegen Ungarn:Auch Flüchtlinge haben Rechte

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Ungarn hat die Möglichkeiten, Asyl zu beantragen, immer weiter erschwert. 2016 wollten Flüchtlinge den Grenzübertritt durch Hungerstreik erzwingen. (Foto: Zoltan Balogh/picture alliance / dpa)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Ungarn und betont: Die Argumente von Asylbewerbern müssen in einem ordentlichen Verfahren geprüft werden.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Man wird der CDU womöglich zugutehalten müssen, dass sie das so brutal nicht gemeint hat, als sie kürzlich ultimativ Zurückweisungen an der Grenze forderte. Aber das, was einer afghanischen Familie an jenem 7. Mai 2019 an der ungarisch-serbischen Grenze widerfahren ist, illustriert schon ganz gut, wie solche Zurückweisungen in der Wirklichkeit aussehen könnten. Weil sie letztlich nichts anderes bedeuten als den Ausstieg aus den zwar umständlichen, aber eben auch Menschen schützenden Asylprozeduren.

Die afghanischen Eltern hatten mit ihren vier Kindern – das kleinste erst drei Jahre alt – Anfang 2019 in der damals noch existierenden ungarischen Transitzone Röszke Asyl beantragt, nach vielen Jahren in Iran, wo sie sich nicht mehr sicher fühlten. Ihr Antrag wurde von der ungarischen Asylbehörde abgelehnt, sie sollten nach Serbien abgeschoben werden – das freilich ihre Aufnahme verweigerte. Die Behörde erklärte daraufhin kurzerhand Afghanistan zum Zielland, stellte es der Familie aber frei, nach Serbien zu gehen, Aufnahmeverweigerung hin oder her. Am 7. Mai, dem Tag des geplanten Afghanistanflugs, eskalierte die Angelegenheit. Mit Drohungen und angeblich auch Stockschlägen nötigte die Polizei ihnen ihr „Einverständnis“ mit einer Abschiebung nach Serbien ab – also raus aus der EU. Irgendwann nach 22 Uhr stand die Familie in einem serbischen Wald hinter dem Grenzzaun. Niemand wartete auf sie.

Der Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien bei Röszke wurde in den vergangenen Jahren mehrmals verstärkt. (Foto: Tibor Rosta/dpa)

Irgendwie haben sie es bis nach Oldenburg geschafft und dort einen Anwalt gefunden. An diesem Donnerstag hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über ihren Fall entschieden. Ungarn hat gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen und muss 9000 Euro zahlen. Nicht wegen der Stockschläge, da waren die Fakten umstritten. Sondern weil ihnen keine wirkliche Prüfung ihrer Argumente gewährt worden war.

Dieses Recht auf ein ordentliches Verfahren, in dem Schutzansprüche geprüft und Gefährdungen gewichtet werden, ist der menschenrechtliche Kern des Asylrechts. Die Philosophin Hannah Arendt sprach einst vom Recht, Rechte zu haben. Vieles lässt sich ändern am Umgang mit Flüchtlingen, Asylprüfungen dürfen beschleunigt und Überstellungen vereinfacht werden. Einen gewissen Spielraum haben die Behörden selbst in der Frage, welches Maß an Armut und Unsicherheit einem Flüchtling nach einer Überstellung zumutbar ist.

Der EuGH hat bereits eine Strafzahlung von 200 Millionen Euro verhängt

Aber Flüchtlinge vor einer Zurückweisung gar nicht anzuhören oder sie nach einer inszenierten Scheinprüfung aus dem Land zu werfen, verstößt gegen das Verbot der Kollektivausweisung. Die Behörden hätten der Familie eine individuelle Prüfung gewähren müssen, um ihre Argumente gegen die Abschiebung in einer „sinnvollen und effektiven Weise“ vorzubringen, schrieb der Gerichtshof in Straßburg.

Dass Ungarn alles tut, um dieses Recht zu hintertreiben, wird nicht zum ersten Mal höchstrichterlich festgestellt. Das andere Europagericht, der Europäische Gerichtshof (EuGH) der EU in Luxemburg, hatte das Land deswegen bereits im Jahr 2020 verurteilt. Asylverfahren existierten nur auf dem Papier, in der Realität machte Ungarn es den Flüchtlingen unmöglich, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Im Juni hatte der EuGH noch einmal bekräftigt, dass es ihm damit ernst ist: Er verurteilte Ungarn zu einer Strafzahlung von 200 Millionen Euro.

Auch Polen und Italien wurden schon verurteilt

Aber nicht nur Ungarn pflegt solche Abschottungspraktiken, das zeigt ein Blick auf die Fälle, die seit vielen Jahren beim (nicht zur EU gehörenden) Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ankommen. Anhängig ist derzeit eine Klage gegen Litauen, in der mehrere Flüchtlinge vorgebracht haben, die Grenzbeamten hätten sie mit angelegten Gewehren über die Grenze nach Belarus zurückgewiesen, bevor sie überhaupt nur „Asyl“ sagen konnten. Der Gerichtshof behandelt den Fall mit Priorität.

Bereits verurteilt wurde Polen, das tschetschenische Flüchtlinge nach Belarus zurückwies, ohne ihre individuelle Situation geprüft zu haben. Eine Verletzung des Verbots der Kollektivausweisung, befand der Gerichtshof. Ebenso Italien, ein Fall aus dem Jahr 2014: Menschen aus Afghanistan, Sudan und Eritrea wurden nach Griechenland zurückgebracht, wo sie eine Abschiebung in ihre Herkunftsländer fürchten mussten. Der Gerichtshof zeigte sich besorgt über die „automatischen Abschiebungen“ der italienischen Grenzpolizei – letztlich, weil sonst am Ende niemand prüfen würde, ob die Menschen nicht doch den Schutz der Europäer benötigen.

Die Botschaft all dieser Urteile lautet: Wo ein Recht auf Flüchtlingsschutz existiert, muss ein Minimum an rechtsstaatlichen Prozeduren vorgehalten werden, um die individuelle Situation der Menschen zu prüfen – sonst ist es nichts als Papier. Wer Schutz sucht, muss eine echte rechtsstaatliche Chance haben, um zu belegen, dass er ihn tatsächlich benötigt. Alles andere wäre das Ende des Asylrechts.

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