Süddeutsche Zeitung

Asyl:Flüchtlingsaufnahme: Es ist nicht rechtswidrig, sich anzustrengen

Lesezeit: 2 Min.

Man kann Merkels Flüchtlingspolitik für einen schweren Fehler halten. Aber ein Rechtsbruch, gar ein Verfassungsbruch ist sie nicht.

Kommentar von Heribert Prantl

Das Bundesverfassungsgericht wird in diesem Jahr 65 Jahre alt. Zu Beginn des Jubiläumsjahres passieren Dinge, wie sie kaum je zuvor in diesen 65 Jahren passiert sind: Verfassungsjuristen, und zwar nicht irgendwelche, sondern zwei ehemalige Verfassungsrichter, haben sich in apokalyptische Ankläger verwandelt.

Udo Di Fabio und Hans-Jürgen Papier warfen ihre schon zuvor wenig geübte Zurückhaltung von sich und verdammten die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung als Rechts- und Verfassungsbruch. Seitdem berufen sich Leute, die die Kanzlerin als "Diktatorin" beschimpfen, auf das von Di Fabio und Papier ausgelegte Verfassungsrecht.

Di Fabio war 1999 auf Vorschlag der CDU an das höchste Gericht gewählt worden und gehörte ihm bis 2011 an; er hat seine scharfe Attacke auf die Kanzlerin in ein Auftragsgutachten für die CSU geschrieben; Papier ist Mitglied der CSU und war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts; er hat im Handelsblatt schneidend mit der Flüchtlingspolitik abgerechnet.

Dahinter stand und steht eine nicht unberechtigte verfassungspolitische Sorge, die aber sorglos in die Raserei der öffentlichen Debatte hineingeworfen wurde. Andreas Voßkuhle, der amtierende Verfassungsgerichtspräsident, hat behutsam zu moderieren versucht und erklärt, das Grundrecht auf Asyl könne nicht einfach mit einer "Obergrenze" beschränkt werden. Ähnlich sagte es der Präsident des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Aber ruhig erklärende Stimmen finden wenig Gehör in diesen Tagen.

Babylonische Denkverwirrung

In dieser Situation wünscht man sich, es gäbe nicht nur ein aufpeitschendes Gutachten eines Ex-Verfassungsrichters, sondern ein tiefschürfendes Gutachten des Verfassungsgerichts. Die Möglichkeit, ein solches einzuholen, bestand in den Anfangsjahren der Bundesrepublik; 1954 wurde das abgeschafft: Bis dahin konnten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung in einem gemeinsamen Antrag das Plenum des Gerichts um Erstattung eines Verfassungsgutachtens bitten; dasselbe Recht hatte der Bundespräsident. Gäbe es die Möglichkeit noch: Es könnte davon heilsame Wirkung ausgehen.

Verunsicherung hat nämlich auch konservative Verfassungsrechtler erfasst. Dort ist babylonische Denkverwirrung ausgebrochen samt grammatischer Eskalation: Es wird neuerdings neben Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt die strikte grenzpolizeiliche Sicherung der Grenzen zum vierten Staatsmerkmal erhoben - und damit alles infrage gestellt, was Europa in den letzten Jahrzehnten geschaffen und ausgemacht hat. Das ist ein Rückfall in die Eisenzeit des Staatsrechts.

Es gehört zu Europa, dass im Inneren die Grenzen offen sind; es gehört zu Europa, dass die Außengrenzen gesichert werden. Aber diese Sicherung bedeutet nicht, dass keine Flüchtlinge mehr nach Europa kommen können. Würde der Flüchtlingsschutz gestrichen, wäre das die Aufkündigung europäischer und internationaler Konventionen, eine Negation des Rechts.

Man kann nun die Merkel'sche Flüchtlingsaufnahmepolitik für einen schweren politischen Fehler halten. Ein Verfassungsbruch ist sie nicht. Dieser Vorwurf gehört zur Hysterie, die auch Juristen erfasst hat; man meint, man könne Aufregung durch Erregung beruhigen.

Es ist nicht rechtswidrig, sich anzustrengen

Die Situation ist wie folgt: Deutschland hat seit der Osterweiterung keine EU-Außengrenze mehr; auf dem Landweg kann niemand mehr kommen, ohne einen anderen EU-Staat passiert zu haben - welcher dann, nach den von Deutschland einst forcierten Dublin-Regeln, grundsätzlich für das Asylverfahren zuständig ist; eine originäre deutsche Pflichtzuständigkeit für solche Anträge ergibt sich seither eigentlich nur noch in besonderen Fällen.

Pflicht ist allerdings stets, dass hierzulande derjenige EU-Staat festgestellt wird, der für die Asylprüfung zuständig ist: Ein Flüchtling darf nicht blind irgendwohin, sondern nur nach dort abgeschoben werden.

Nach europarechtlichen Regeln ist es aber auch zulässig, dass ein Staat freiwillig das ganze Asylverfahren durchführt. Das kann zur rechtlich-moralischen Pflicht werden, wenn Flüchtlinge im eigentlich zuständigen EU-Staat nicht menschenwürdig behandelt werden. In einer solchen Situation hat sich Merkel im Spätsommer für die Aufnahme der Flüchtlinge entschieden und "Wir schaffen das" gesagt.

Merkel-Kritiker pochen nun auf den alten Rechtssatz: Ultra posse nemo obligatur/niemand ist verpflichtet, mehr zu leisten, als er kann. Das ist richtig. Aber es ist nicht rechtswidrig, sich anzustrengen.

Der oberste Verfassungssatz ist der von der Menschenwürde. Wenn eine Kanzlerin aus seinem Geist heraus Politik zu machen versucht, sollten ihr nicht ausgerechnet Verfassungsrechtler deswegen Verfassungsbruch vorwerfen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen für 0,99 € zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2832001
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 25.01.2016
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.