Hetze gegen Kommunalpolitiker:"Ich war allein"

Lesezeit: 4 min

Martina Angermann, 63, ließ sich vor zwei Jahren vorzeitig in den Ruhestand versetzen. (Foto: Antonie Rietzschel)

Martina Angermann war 18 Jahre lang Bürgermeisterin von Arnsdorf in Sachsen - und wäre es vielleicht heute noch, wenn Hass und Hetze sie nicht krank gemacht hätten.

Von Antonie Rietzschel, Zaschendorf

Auf dem Tisch vor Martina Angermann liegt ein flaches Päckchen. Sie öffnet es vorsichtig, zieht einen Bilderrahmen aus dem Karton. "Botschafterin für Demokratie und Toleranz" steht auf weiß-blauem Papier, darunter Angermanns Name. Jedes Jahr zeichnet die Bundesregierung Menschen für ihr Engagement aus. Die Feier am Pfingstsonntag findet wegen Corona nur virtuell statt, die Urkunde hat der Postbote gebracht. Das Glas des Bilderrahmens ist beim Transport zerbrochen. Angermann pult die Scherben heraus. Sie habe gedacht, jemand wolle sie veräppeln, als der Anruf aus Berlin kam. Unter den anderen Botschafterinnen ist eine Journalistin, ein Politiker, eine Jazz-Musikerin und eine Aktivistin. "Ich bin ja nichts mehr", sagt Angermann.

Von 2001 bis 2019 war die heute 63-Jährige Bürgermeisterin in Arnsdorf, einer kleinen Gemeinde östlich von Dresden. 18 Jahre lang. Vielleicht wäre sie es noch, wenn das Amt sie nicht krank gemacht hätte. Angermann war eine der ersten Kommunalpolitikerinnen, die öffentlich über Anfeindungen und Bedrohungen gesprochen hat. Ihre Geschichte und die der Gemeinde Arnsdorf, wo ein junger Mann an einen Baum gebunden wurde, machte 2016 im ganzen Land Schlagzeilen.

Als Angermann 2001 zum ersten Mal als Bürgermeisterin antritt, erscheinen ihre Chancen minimal. Eine Frau, SPD-Mitglied, und dann wohnt sie nicht mal im Ort, sondern in Zaschendorf. Zwölf Kilometer können eine zur Fremden machen. Als sie im Wahlkampf gefragt wird, was sie besser kann als der männliche Gegenkandidat der CDU, sagt sie: "Was wollt ihr mit einem Bauingenieur, ihr habt doch eh kein Geld, um zu bauen." Arnsdorf ist hoch verschuldet, die Straßen sind von Schlaglöchern übersät, die Fassaden bröckeln. Angermann hat jahrelang in der Gemeindeverwaltung gearbeitet. Sie weiß, wie Kommunalpolitik funktioniert, dass eine Gemeinde wie Arnsdorf keine Visionen braucht, sondern Struktur. Nach ihrem Wahlsieg baut sie die Verwaltung um, kümmert sich um Fördergelder, schafft das Biertrinken bei Gemeinderatssitzungen ab.

In Angermanns Büro steht ein Karton, gefüllt mit ausgeschnittenen Artikeln. Es sind Zeugnisse früher Niederlagen, aber auch späterer Erfolge: Die Bürgermeisterin bei einer Demonstration gegen die Schließung der Mittelschule, bei der Einweihung der frisch sanierten Grundschule. Als der Karnevalsverein im Kulturhaus Jubiläum feiert, wird eine riesige Mülltonne auf die Bühne geschoben. Als sich der Deckel öffnet, steht da die 1,45 Meter große Angermann, als "Tönnchen in der Tonne". Zwölf Kilometer können irgendwann egal sein.

"Unangemessen und brutal"

Als es 2015 heißt, die sächsischen Gemeinden sollten Geflüchtete aufnehmen, fühlt sich Angermann gerüstet. Es gibt runde Tische, bei denen sie mit Vereinen, Unternehmen und der Schule berät, wie sich die Menschen integrieren lassen. Doch ein selbsternanntes Bürgerforum macht Stimmung gegen die Geflüchteten und greift Angermann persönlich an. Sie belüge die Bevölkerung, heißt es, auf Facebook häufen sich die Vorwürfe. Bis heute erinnern sich Arnsdorfer an die aggressive Stimmung bei einer Einwohnerversammlung: "Wenn mir ein Ausländer auf der Straße begegnet, wechselt der besser die Seite", wird ein Bewohner zitiert.

Am 21. Mai 2016 prügeln vier Männer einen jungen Iraker aus dem Netto-Supermarkt, binden ihn mit Kabelbindern an einen Baum. So findet ihn die herbeigerufene Polizei. Er soll eine Verkäuferin mit einer Flasche bedroht haben, tatsächlich hatte der psychisch kranke Mann Probleme mit der Telefonkarte. In seiner Landessprache hatte er auf die genervte Verkäuferin eingeredet, so ist es in einem Video zu sehen. Martina Angermann bezeichnet die Tat als "unangemessen und brutal", die Angreifer müssen sich wegen Freiheitsberaubung vor Gericht verantworten.

Bis heute steht dieser Spruch an einem Haus in Arnsdorf - angebracht während Angermanns Amtszeit. (Foto: Antonie Rietzschel)

Einer der Männer sitzt für die CDU im Gemeinderat. An ihnen werde ein Exempel statuiert, sagt er in einer Rede. "Wer wird helfen, wenn im Schwimmbad kleine Mädchen belästigt werden?" Nicht wenige im Ort halten den Netto-Vorfall für einen Akt der Zivilcourage. Einige Arnsdorfer grüßen Angermann nicht mehr, beim Fleischer schauen manche weg. Wenn die Bürgermeisterin bis spät im Gemeindehaus sitzt, traut sie sich manchmal nicht, das Licht anzumachen, aus Angst, ihr könnte jemand draußen auflauern. Als der Prozess 2017 eingestellt wird, lassen sich die vier Männer auch von der AfD und der rechtsextremen Identitären Bewegung feiern. Sie rücken mit ihren Unterstützern zur Gemeinderatssitzung an, fordern die Bürgermeisterin auf, zurückzutreten. Doch Angermann bleibt. Noch.

Anzeigen wurden eingestellt

In Zaschendorf, hinter dem Haus von Angermann, steht eine Bank. Bei schönem Wetter kann man über das ganze Elbtal sehen. Hier zu sitzen, den Kopf ihres Katers zu kraulen, das hat ihr lange gereicht, um herunterzukommen. Doch die Anfeindungen bei Facebook hören nicht auf. Vor allem seit die AfD Anfang 2019 im Gemeinderat sitzt, muss sie immer wieder Angriffe abwehren. Im Frühjahr 2019 bricht Angermann zusammen. Burn-out. Angermann lässt sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen, kommt so der AfD zuvor, die sie abwählen lassen will. Im Herbst 2019 räumt sie ihr Büro leer und fährt los, im Auto ihrer Tochter. Niemand soll sie sehen. Zwölf Kilometer können ein Fluchtweg sein.

Bei gutem Wetter kann Angermann von ihrem Haus aus über das Elbtal sehen. (Foto: Antonie Rietzschel)

In ihrem Haus in Zaschendorf kommen Angermann jetzt die Tränen. "Ich war allein." Angermann hat in einem roten Ordner alle Zeitungsartikel, Facebook-Beiträge und Kommentare zu Arnsdorf gesammelt. Sie zieht einen Brief hervor, von Sachsens Innenminister Roland Wöller. Betreff: Intensivierung des Schutzes für Amts- und Mandatsträger . Ein Rundschreiben, das der CDU-Politiker nach dem Mord an dem hessischen Lokalpolitiker Walter Lübcke verschickt hat. Darin werden Amtsträger wie Angermann aufgefordert, Vorfälle der Polizei zu melden. Sie antwortet mit einem dreiseitigen Schreiben, dem sie auch eine Übersicht über alle Anzeigen beilegt, die sie erstattet hat. Entweder wurden die Ermittlungen eingestellt, oder es gab gar keine Reaktion.

Einer aktuellen Umfrage zufolge wurden 72 Prozent der Bürgermeister schon einmal beleidigt, beschimpft, bedroht oder angegriffen. Im April 2021 hat der Bundestag ein Gesetzespaket verabschiedet, das Kommunalpolitiker künftig besser schützen soll. Zu spät für Martina Angermann.

Die frühere Bürgermeisterin hat mittlerweile selbst die kleinste Scherbe aus dem Bilderrahmen gepickt, sie hält die Urkunde vor sich, lächelt. Als Botschafterin für "Demokratie und Toleranz" erhält sie 5000 Euro. Das meiste Geld wird sie Vereinen spenden, nur ein bisschen behält sie für sich. Im Sommer will sie ein kleines Fest organisieren, für all jene, die ihr geholfen haben. Ihre Familie soll dabei sein, Freunde, Politiker - aber auch ein paar Arnsdorfer.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: