Armutsbericht in der Kritik:Die ewige Mitte

Der Armutsbericht ist im Kern wieder eine Diagnose zum Mittelstand. Und alarmiert wird in Deutschland immer, wenn die Mittelschicht bedroht ist. Hundert Jahre Stimmenwerbung.

Gustav Seibt

Mittelstand, das seien "diejenigen Leute, um deren Stimmen man sich bewirbt". So steht es in einer Broschüre zum Thema "Mittelstandspolitik", die 1905 erschienen ist. Die Sorge um die Mitte der Gesellschaft in Deutschland ist alt, älter als die Industriegesellschaft. Ein gesunder, in sich ruhender Mittelstand von Gewerbetreibenden, akademischen Berufen, Lehrern, Beamten und Hausbesitzern gilt seit je als beste Versicherung gegen politischen Radikalismus und revolutionäre Experimente.

Armut in Deutschland; dpa

Überraschender als die Armutsgrenze ist dem Bericht zufolge die Obergrenze, ab wann man als "reich" gilt.

(Foto: Foto: dpa)

Im Schatten der Französischen Revolution fand der gern kleinstädtisch, fast kleinbürgerlich gezeichnete Mittelstand seine Idealbilder, beispielsweise in Goethes Idylle "Hermann und Dorothea", wo ein Gastwirt, ein Pfarrer und ein Apotheker voller grausender Anteilnahme die Flüchtlingsflut aus dem revolutionären Nachbarland beobachten; sie hocken in einem wohlgeputzten Städtchen, dessen umliegendes Land in maßvoll überschaubare Eigentumsparzellen aufgeteilt ist. Großstädtischer Pöbel, gar Industrieproletariat, ist hier ebenso weit entfernt wie Großgrundbesitz und adelige Willkür. Eigentum in mittleren Dimensionen, wirtschaftliche Selbständigkeit erscheinen als Garanten maßvoller politischer Einstellungen, die man gern als unpolitisch beschrieben hat.

Noch Helmut Schelskys zu Anfang der fünfziger Jahre, im beginnenden Wirtschaftswunder, vorgetragene These von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" zehrte von solchen Bildern. Die Industriearbeiterschaft "entproletarisiere" sich, war eine seiner Thesen. Zugleich hatten der Krieg und die Besatzungspolitik die alten aristokratisch-industriellen Machteliten stark beschnitten.

Das ostelbische Junkertum war ohnehin verschwunden, aber auch einige der industriellen Großkartelle wie die IG-Farben waren zerschlagen worden. Die Welt von Hugenberg und Hindenburg, aber auch die Basis der Kommunistischen Partei waren verschwunden. Geblieben war ein Volk der Facharbeiter und Häuslebauer, Volkswagenbesitzer und Stammwähler von Volksparteien, gewerkschaftlich und berufsständisch organisiert und domestiziert.

In der "neuen Mitte", die im Wahlkampf von 1998 von Rot-Grün ausgerufen wurde, erhielt dieser ewige Traum vom Mittelstand ein großstädtisches Lifting: Angesprochen werden sollte eine aufgeklärte, gut ausgebildete, gern in den neuen technischen Berufen arbeitende Schicht von dynamischen Berufstätigen und intelligenten Konsumenten. Noch die Agenda-Politik, die den Sozialstaat "effizienter" und "schlanker" machen, "Transferleistungen" beschneiden und das Wirtschaftssystem weniger schwerfällig werden lassen sollte, vertraute auf die Schubkraft der Mitte; sie sollte auch den fußlahmen Rest der Dauerarbeitslosen in Bewegung setzen.

Politik ist ein schmutziges Spiel

Kaum zu glauben, dass das erst fünf Jahre her sein soll. Eingeläutet wurde der Umschwung durch den Anti-Kirchhof-Wahlkampf der SPD und zementiert durch den Aufstieg der Linkspartei. Bezeichnend aber ist, dass auch jetzt wieder um den Mittelstand gekämpft wird, also "diejenigen Leute, um deren Stimmen man sich bewirbt". Der jüngste "Armutsbericht" - eigentlich eine Expertise zu den "Lebenslagen in Deutschland" insgesamt, also Reichtum und Armut in der ganzen Spreizung - ist im Kern wieder eine Diagnose zum Mittelstand geworden. Zehn Jahre nach der "neuen Mitte" soll nun die Mitte der Gesellschaft bedroht sein, durch verschärfte Armut und obszönen Reichtum. Und bei aller sozialen Rhetorik: Alarmistisch wird das politische Klima in Deutschland immer dann, wenn die Mittelschicht bedroht erscheint. Dass sie vom "Abrutschen" bedroht sei, ist ein beliebte These jüngerer Sozialforschung.

Darum ist es nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass in den Zahlen des jüngsten Berichts die mittleren Einkommensschichten, die sich für Alleinverdiener zwischen den Grenzen von 781 Euro einerseits und 3418 Euro andererseits bewegen, bei insgesamt fast 80 Prozent liegen.

Dabei dürfte die Obergrenze, von der an man als "reich" gilt (das Doppelte des sogenannten "Medianeinkommens") überraschender sein als die Armutsgrenze: Irgendwie hatte man sich den Reichtum reicher vorgestellt, mutmaßlich befeuert von enormen Gehältern für Manager oder Bonuszahlungen für die Köhlerschen Finanzmonster. In den neuen Zahlen wirkt die Mittelschicht so still-bescheiden und mäßig-karg wie eh und je. Aber auch so breit wie nie: Was darüber liegt, sind weniger als neun Prozent der Bevölkerung, während die Einkommensarmen gut 13 Prozent ausmachen.

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Die ewige Mitte

Entgegen der öffentlichen Diskussion sind diese Zahlen kaum alarmierend, zumal wenn man erfährt, dass nach wie vor die zehn Prozent Einkommensstärksten 52 Prozent der Einkommenssteuer aufbringen. Sicher, man könnte immer noch etwas mehr umverteilen, aber hier ist der Grenznutzen, von dem an die Steuerverteilung vollends dysfunktional wird, bald endgültig erreicht. Es gibt, nicht zuletzt dank der "kalten Progression" durch die Inflation, längst einen Punkt, wo zusätzliche Anstrengung gerade bei Selbständigen und Gewerbetreibenden in keiner vernünftigen Relation mehr zum Gewinn steht. Und wer nur die Allerreichsten - ab 500.000 Euro Jahreseinkommen - zusätzlich beschweren will, dürfte kaum mehr als symbolische Effekte erzielen.

Symbolpolitisch, also Stimmenwerbung, ist das meiste, was in diesen Tagen geäußert wird; jetzt soll nach einer SPD-Initiative sogar die Diätenerhöhung für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wieder zurückgenommen werden. Dabei stehen die 54 Millionen Euro, die die Bundestagsabgeordneten nach der Erhöhung 2008 insgesamt kosten würden, in gar keinem Verhältnis zu den 21 Milliarden, die allein das Arbeitslosengeld II im Jahre 2007 verschlungen hat. Die drei Millionen, die man durch einen Verzicht auf die Erhöhung einsparen würde, schlagen da nicht einmal als Pfennigbeträge zu Buche. Viel weniger bekannt ist eine andere Zahl: die 42 Milliarden Euro - also gut das Doppelte der Hartz-IV-Aufwendungen -, die allein der Bund 2009 an Zinsen für seine Staatsschulden aufwenden muss. Hier liegt die bleischwere Ursache für eine Steuerlast, die vor allem auch den Mittelstand nach unten zieht.

Eine obszöne neue Form administrativer Machtausübung

Zum Bedrückendsten an der Armut in Deutschland gehört die bürokratische Schikane, die sie nach sich zieht, das Antragswesen und entwürdigende Betteln bei Behörden, zu dem sie die Betroffenen verdammt, also eine obszöne neue Form administrativer Machtausübung. Kleine, aber in gesicherten Vertragsverhältnissen lebende Angestellte schurigeln in blinkenden Büropalästen Stellenlose, Minderqualifizierte oder alleinerziehende Mütter. Und der eigentliche Skandal liegt darin, dass in einer Situation strukturell werdenden Facharbeitermangels schlechte Ausbildung zum häufigsten Armutsrisiko geworden ist. Dagegen hilft es gar nichts, die Gesellschaft noch ein bisschen mittiger zu machen.

Wer in diesen Tagen mit dem Regionalzug der Deutschen Bundesbahn durch Brandenburg fährt, kann auf den Displays für die Fahrplananzeige in den Abteilen zwischen den eingestreuten Reklamen auch Dutzende auf der Straße befragte Bürger sehen, die sich über die Diätenerhöhungen empören.

Der teilweise aggressiv geäußerte Hass auf demokratisch gewählte Parlamentarier, der hier in den Zügen eines staatlich beauftragten und subventionierten Unternehmens ausgestellt wird, beerbt eine der unangenehmsten historischen Mentalitäten deutscher Mittelschichten: die Verachtung der Politik als eines schmutzigen Spiels zum persönlichen Vorteil der Politiker. Der ewige Kampf um den Mittelstand oszillierte schon immer zwischen Panikmache und Volksverdummung. Vor den Zugfenstern aber liegt jene Landschaft, die vom allherrschenden Mittelstand bis in die letzten Ecken geprägt ist: Sie ist zersiedelt und vollbesetzt mit Eigenheimen.

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