Süddeutsche Zeitung

Armut:Wenn der Zusammenhalt bröckelt

Die Flüchtlinge sind es nicht, die den Menschen in Deutschland die größten Sorgen bereiteten, warnt der Paritätische Gesamtverband. Es seien eher die Altersarmut und mangelnde Bildung.

Von Hilmar Klute, Berlin

Die Flüchtlinge seien es nicht, die den Menschen in Deutschland die größten Sorgen bereiteten, so der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbands, Rolf Rosenbock. Als er am Dienstag das Jahresgutachten vorstellte, machte er eher die Themen Altersarmut und Bildung zum Schwerpunkt. In seiner Analyse warnt der Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege, dass die gute Wirtschaftslage und die positiven Entwicklungen am Arbeitsmarkt an vielen Menschen vorbeigingen. Zu viele könnten von ihrem Lohn allein nicht leben oder keine ausreichenden Ansprüche auf Leistungen der Arbeitslosen- und Rentenversicherung erwerben. Noch immer arbeite gut ein Fünftel der Beschäftigten zu niedrigen Löhnen von weniger als 10,50 Euro pro Stunde. Die Fokussierung der aktuellen politischen Debatte auf Migration und Flucht lenke jedoch von diesen Sorgen ab und gefährde den sozialen Zusammenhalt im Land, kritisierte Rosenbock.

Als problematisch benennt der Bericht beispielsweise eine Dunkelziffer von Menschen, die zwar berechtigt seien, soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen, dies aber nicht wüssten oder könnten. Man gehe von einer Nichtinanspruchnahmequote von 40 Prozent aus, heißt es hier. Auch die Überschuldung der Bevölkerung sei besorgniserregend. Im vergangenen Jahr hatten zehn Prozent der Bevölkerung Schulden, besonders die Zahl der über 70-jährigen Schuldner habe überdurchschnittlich zugenommen. Im Schnitt fehlten den 6,9 Millionen betroffenen Menschen 30 000 Euro pro Person. Es gebe erheblichen Handlungsbedarf für eine bessere, offensive Sozialpolitik, die ihren Schwerpunkt auf vernachlässigte Gruppen lege, sagte Rosenbrock.

Der Paritätische Gesamtverband fordert deshalb Milliarden-Investitionen des Staates für mehr sozialen Zusammenhalt. Dringend zu verbessern seien etwa Betreuungsangebote für Kinder, Schuldnerberatungen und die soziale und medizinische Versorgung auf dem Land. Der Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro solle auf 12 Euro pro Stunde steigen, der Regelsatz für die Hartz-IV-Grundsicherung von 416 Euro auf mindestens 571 Euro. Der Verband verlangt, auch die gesetzliche Rente zu stärken. Dafür sollte die bisherige Förderung von Betriebsrenten und privater Vorsorge umgelenkt werden.

Bei "Superreichen" das abholen, was zur Bekämpfung der Kinderarmut nötig ist

Mehr Geld werde zudem gebraucht, um "Kümmerer-Strukturen" wie Begegnungsstätten oder Dorfläden in Städten und Gemeinden abzusichern. Angesichts einer Erosion des sozialen Zusammenhalts seien alle Einrichtungen zu stärken, "die einschließen statt ausgrenzen und Menschen unterschiedlicher Herkunft und aus verschiedenen sozialen Milieus zusammenführen", sagte Rosenbrock. Ein soziales Investitionsprogramm, das nicht nur symbolisch wirke, dürfte ihm zufolge geschätzt rund 50 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Hinzu kämen Steuerausfälle von 15 Milliarden Euro. Dies sei angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 3,3 Billionen Euro bei politischem Willen kein unüberwindbares Hindernis.

Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte, die Politik der vergangenen Jahrzehnte habe die soziale Spaltung vorangetrieben und zum Erstarken des Rechtspopulismus beigetragen. Nötig sei eine große Steuerreform, "die bei Superreichen und Konzernen das abholt, was zum Beispiel zur Bekämpfung von Kinderarmut notwendig ist". SPD-Fraktionsvize Katja Mast betonte den Anspruch ihrer Partei, Zusammenhalt zu stärken, etwa beim Kampf gegen Altersarmut oder mit einer Stabilisierung der Rente.

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SZ vom 08.08.2018
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