Süddeutsche Zeitung

Armut und Hartz IV:Das Gefühl, staatlicher Kälte ausgesetzt zu sein

"Hartz IV bedeutet nicht Armut": Mit diesem Satz provozierte CDU-Politiker Jens Spahn zu Jahresbeginn. Eine Betroffenen-Initiative zeigt, wie ihre Realität aussieht - und dass es um mehr geht als Geld.

Von Thomas Hahn, Hannover

Die besten Ideen hat der Armutsbekämpfer Klaus-Dieter Gleitze, wenn er sauer ist. In gewisser Weise ist er deshalb sogar dankbar für den Zorn, den der CDU-Politiker Jens Spahn dieses Jahr in ihm entfachte. Es war im März. Spahn wechselte gerade von seinem Posten als Staatssekretär im Finanzministerium auf den des Gesundheitsministers - und als wolle er einen letzten kalten Gruß aus der Geldverwaltung versenden, sagte Spahn in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: "Hartz IV bedeutet nicht Armut, sondern ist die Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut."

Kaum ein anderer Politikersatz hat 2018 so viel Empörung hervorgerufen wie dieser, auch Gleitze fand ihn "zynisch". In seiner Funktion als Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz Niedersachsen suchte er eine Möglichkeit, mit Spahn ins Gespräch zu kommen. Wenig später lud er ihn zu einer Veranstaltung ein, die er "Armutspraktikum" nannte.

Ausflüge an die Basis sind nie verkehrt. Aber Spahn sagte ab, weil er als privilegierter Mensch seine Teilnahme "nicht nur unglaubwürdig, sondern auch respektlos" gefunden hätte. "Armut ist keine Showveranstaltung", sagt er. "Außerdem sehe ich meine Aufgabe als einziger Sozialminister der Union darin, Armut zu bekämpfen und die Folgen von Armut zu minimieren. Das hilft den Betroffenen mehr als Praktika."

Immerhin: Der Vorgang brachte Aufmerksamkeit für einen Konflikt, der sich immer tiefer ins gesellschaftliche Gefüge frisst und die nächsten Wahlkämpfe prägen dürfte. Die Debatte über Hartz IV ist die Schicksalsdebatte für die SPD, in der bis heute viele damit hadern, dass SPD-Kanzler Gerhard Schröder der Bauherr dieser nachhaltigsten Härte im Sozialstaatsreform-Paket von 2003 bis 2005 war.

Sie könnte auch der Schlüssel im Kampf gegen weitere AfD-Erfolge sein. Die jüngsten Wahlen haben gezeigt, dass die Rechtsaußen-Partei vor allem in sozialen Brennpunkten gewann, in denen Menschen wenig Geld haben, während um sie herum die Wirtschaft brummt, Mieten steigen, Preise anziehen. "Arme Menschen neigen nun mal zu einfachen Lösungen", sagt der wohnungslose Christof Meyer-Gerlt.

Meyer-Gerlt sitzt in der Zentrale der Landesarmutskonferenz in Hannovers City. Neben ihm hat sich Udo Selent niedergelassen, ebenfalls Hartz-IV-Empfänger, ebenfalls einer, der zu Spahn gesprochen hätte, wenn dieser sich auf das Armutspraktikum eingelassen hätte. Das Armutspraktikum hatte Gleitze gar nicht wirklich als Praktikum angelegt, eher als Rundgang durch eine Welt, die Gutverdiener leicht ausblenden.

Spahn hätte sich in die Schlange vor einer Tafel stellen können. Er hätte an Grundschulen hören können, wie das ist, wenn die Hälfte der Kinder hungrig zum Unterricht kommt. Und er hätte Christof Meyer-Gerlt und Udo Selent treffen können, zwei beredte Zeugen des Hartz-IV-Wesens, die den Frust über ihre Armut in politische Energie umgewandelt haben.

"Durch die Angst vor Hartz IV wurde jede Arbeit zumutbar"

Armut ist in der EU ein klar definierter Zustand. Wer weniger als 60 Prozent des nationalen mittleren Einkommens zur Verfügung hat, gilt als armutsgefährdet oder arm. Die Regelsätze des Arbeitslosengelds II, im Volksmund Hartz IV, liegen unterhalb dieser Grenze. Außerdem sind seit den Reformen viele Menschen in Billigjobs und prekäre Anstellungen gekommen.

"Durch die Angst vor Hartz IV wurde jede Arbeit zumutbar", sagt Lars Niggemeyer, Arbeitsmarkt-Experte beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), einer der Sprecher der Landesarmutskonferenz. Für ihn ist Hartz IV einer der Gründe dafür, dass das Armutsrisiko heute größer ist als früher.

Nach einer Statistik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung waren 1998 10,5 Prozent der Erwerbstätigen von Armut bedroht, die jüngste EU-Statistik weist für Deutschland ein Armutsrisiko von 19 Prozent aus. Die Ungleichheit in der gedeihenden Wohlstandsgesellschaft ist gewachsen, und Hartz IV fühlt sich dabei für die Betroffenen wie eine Falle an.

Udo Selent und Christof Meyer-Gerlt erzählen bereitwillig ihre Geschichten. Allerdings möchten sie den Eindruck vermeiden, sie seien besonders schwer gebeutelte Einzelfälle: "Es gibt 1,2 Millionen Wohnungslose und 15,5 Millionen Menschen, die von Armut betroffen sind", sagt Meyer-Gerlt, "das hat mit persönlichen Schicksalen seit ganz Langem nichts mehr zu tun."

Er ist ausgebildeter Theaterregisseur und hatte schon viele Jobs. Er arbeitete in Hamburg, als er in einer belastenden Lebensphase die Symptome seiner bipolaren Störung übersah und schwer erkrankte. Als er aus dem Krankenhaus kam, war die Wohnung weg und er praktisch mittellos. Heute lebt er in einer Wohnungslosen-Einrichtung der Diakonie Freistatt, arbeitet dort als Redakteur für das Wohnungslosen-Portal Freistätter Online-Zeitung und muss vor jeder Busfahrt überlegen, ob er sich das überhaupt leisten kann.

Udo Selent ist gelernter Großhandelskaufmann und studierter Volkswirt. Sein Berufsleben unterbrach er, um als Hausmann seine Kinder zu versorgen. Nach der Scheidung arbeitete er als Rundfunkgebührenbeauftragter. Dann kam der Schlaganfall. "Eineinhalb Jahre krank, eineinhalb Jahre Arbeitslosengeld - und jetzt halt auf Hartz IV. Das ist der klassische Abstieg."

Er sitzt im Stadtrat von Springe, er engagiert sich in der Betroffenen-Initiative Gnadenlos Gerecht. Hartz IV bedrängt ihn. 416 Euro hat er monatlich zum Leben. Seine Wohnung, bezogen zu besseren Zeiten, ist mit 540 Euro Warmmiete um etwa 120 Euro teurer als die Unterkunftskosten, welche nach Hartz-Gesetz die Kommune erstattet. Selent müsste eine billigere finden. "Aber Springe ist Speckgürtel von Hannover, es gibt keine billige Wohnung."

"Es ist nicht so, dass man von Hartz IV nicht leben kann", sagt Meyer-Gerlt, "aber man kann halt auch nur davon leben." Die Wege zur sozialen Teilhabe seien versperrt. Über die Grundversorgung hinaus sei wenig möglich. Dazu kommt der geringe gesellschaftliche Status, die Briefe vom Jobcenter, in denen stets ein Verdacht auf Sozialbetrug mitzuschwingen scheint.

Arbeitsvermittlung jenseits von - teilweise subventionierten - Billiglohnjobs, die Statistik und Kassenlage entlasten? Für Langzeitarbeitslose gibt es das nicht, so zumindest hat es Meyer-Gerlt erlebt. "Das Prinzip von Hartz IV ist, die Leute dazu zu kriegen, weniger Hartz IV zu beziehen", sagt er.

"So langsam habe ich das Gefühl, dass uns zugehört wird"

Neben der Landesarmutskonferenz ist in einem früheren Teppichgeschäft die katholische Einrichtung ka:punkt untergebracht. Dort gibt es billigen Kaffee und eine offene Beratung, in der Hartz-IV-Empfänger ihre Sorgen abladen können. Die Vize-Leiterin Gabriele Block sagt: "Für viele ist das schon hilfreich, wenn ihnen jemand gegenübersitzt, der ernst nimmt, dass es ihnen so geht, wie es ihnen geht, und der Verständnis für ihre Verzweiflung hat."

Es geht in der Armutsdebatte eben nicht nur um Geld. Es geht um das Gefühl, schutzlos einer staatlichen Kälte ausgesetzt zu sein. Auch deshalb war die Empörung über Spahns Hartz-IV-Aussage groß. Sie bestätigte den Eindruck, dass die Politiker der modernen Marktwirtschaft die Probleme der Gestrandeten herunterspielen.

Gleitze und die anderen Armutsbekämpfer hoffen auf den Druck der schlechten Wahlergebnisse. Ein besserer Mindestlohn ist im Gespräch. Das Chancen-Teilhabe-Gesetz kommt, es dürfte Christof Meyer-Gerlt 2019 zu einem bezahlten Journalisten machen. Die Grünen wollen Hartz IV abschaffen. SPD-Sozialminister Hubertus Heil plant einen neuen sozialen Arbeitsmarkt.

"So langsam habe ich das Gefühl, dass uns zugehört wird", sagt Meyer-Gerlt. Der Spahn-Satz bleibt für ihn der Irrtum des Jahres. Hartz IV, die Reaktion der Gesellschaft auf Armut? "Umgekehrt ist es", sagt Christof Meyer-Gerlt, "Armut ist die Reaktion der Gesellschaft auf Hartz IV."

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SZ vom 28.12.2018/gal
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