Süddeutsche Zeitung

Armut:"Mitte des Monats kannst du dir das Leben nicht mehr leisten"

Viele Tafeln können keine Bedürftigen mehr aufnehmen, auch bei anderen Hilfsangeboten werden die Schlangen immer länger. Ein Besuch bei Betroffenen.

Von Miriam Dahlinger, Berlin

450 grüne Tüten, gefüllt mit Lebensmitteln, stehen fein säuberlich aufgereiht in der Turnhalle der Arche in Berlin-Hellersdorf. Doch Bernd Siggelkow, Vorstand des christlichen Kinder- und Jugendwerks, ist besorgt, dass selbst diese Menge nicht ausreichen wird. Denn die Zahl der Familien, die sich am Ende des Monats nicht einmal mehr Essen leisten können und deshalb hierherkommen, steigt kontinuierlich. Pastor Siggelkow kann das am Geld festmachen, das die Arche aufwendet: "Früher haben wir 1000 Euro in der Woche für Lebensmittel ausgeben, jetzt sind es 3000 Euro am Tag."

Auch am letzten Donnerstag im Februar stehen mehrere Hundert Frauen und Männer auf dem Hof der Arche an - für eine der Tüten mit Brötchen, Kartoffelbrei zum Anrühren, Milch. Einige sind schon am frühen Morgen gekommen, andere hasten kurz vor elf Uhr noch von der Tram-Station Stendaler Straße herüber, um nicht als Letzte in der Reihe zu landen, wenn die Verteilung beginnt.

Zwar will niemand in der Schlange seinen Nachnamen in der Zeitung veröffentlicht sehen, aber auf ihre Situation aufmerksam machen wollen viele.

Vorne in der Reihe steht Ulf, der 51-Jährige war schon früh da, weil er wieder zu Hause sein will, wenn sein elfjähriger Sohn Ruben aus der Schule kommt: "Mein Sohn darf nicht merken, dass ich kaum was habe", sagt er. "Dann knapp's ich lieber bei mir." Weiter hinten wartet Grit, 47, mit ihrer achtjährigen Tochter Dina: "Letztens stand mein Kind in der Kaufhalle und hat geheult, weil ich ihr keine Wiener Würstchen bezahlen konnte", sagt sie und streicht ihrer Tochter über das Haar.

Etwa 30 Familien müssen an diesem Tag ohne Lebensmittel nach Hause gehen

Die Tafel in Hellersdorf gibt alle 14 Tage Lebensmittel an bedürftige Familien aus. An diesem Donnerstag verteilen sie neben den bereitstehenden 450 Tüten noch einmal 50 Pakete aus dem Lager - und doch müssen etwa 30 Familien ohne Lebensmittel nach Hause gehen.

Allein die 964 Tafeln in Deutschland unterstützen etwa zwei Millionen Menschen - so viele haben sie noch nie gezählt. Und fast ein Drittel aller Tafeln konnte nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr niemanden mehr neu aufnehmen, weil ihnen Lebensmittel-, Sach- und Geldspenden fehlen, ebenso wie ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Also stopfen andere Hilfsorganisationen die entstehenden Löcher, wie eben die Arche. "Wir haben früher natürlich schon Lebensmittel ausgegeben, aber nicht in dem Maße", erzählt Siggelkow.

Die Freundinnen Sina und Francine haben eine der letzten grünen Tüten bekommen und packen Aufbackbrötchen und Konserven in unauffälligere Taschen um: "Mitte des Monats kannst du dir das Leben nicht mehr leisten", sagt Sina und schunkelt einen Kinderwagen, in dem ihr vier Wochen altes Baby schläft. "Paprika für 95 Cent oder Gurke für 1,99?", fragt auch Francine. Wenn man dann die Chance habe, am Ende des Monats etwas auf den Tisch zu bringen, "stell ich mich auch drei Stunden und 27 Minuten in eine Schlange".

Zwei Tage später, Samstagmittag am Helene-Weigel-Platz in Berlin-Marzahn. Es schneit, manche Rentnerinnen sind seit neun Uhr morgens hier, sie nutzen ihre Rollatoren als Sitzgelegenheit. Der DRK Nordost hat im März 2020 hier eine Suppenküche eröffnet, die warmen Mahlzeiten und die Lebensmitteltüten helfen vielen, um die letzten Tage bis zur nächsten Auszahlung der Rente zu überbrücken. An diesem Samstag haben die Helfer des Roten Kreuzes 300 Portionen gekocht und 200 Lebensmitteltüten gepackt. Es gibt auch eine Kleiderkammer.

Warum sie hier ist? "Weil die Erwerbsminderungsrente nicht reicht. So einfach ist das", sagt eine ältere Dame. Ihr Schal passt zu ihrer Mütze. "Neue Kleidung kann ich mir nicht leisten, deshalb mache ich viel Handarbeit", erzählt sie. "Upcyceln, wie man heute sagt". Um weiteres Geld zu sparen, mache sie sich jede Woche einen Einkaufsplan: "Diesmal stand Reis drauf, mit Frikassee, aber ohne Huhn. Das ist zu teuer geworden."

Es wächst die Angst vor Mangelernährung bei Kindern

Wie unter der Kundschaft der Arche in Hellersdorf haben viele hier Schicksalsschläge erlitten. Manche sind vor einem Krieg geflohen, andere können aus psychischen oder physischen Gründen nicht mehr arbeiten. "Ohne die Depression wäre das alles viel einfacher", sagt etwa Martina, die sich den Schal gegen die Kälte bis über die Nase gezogen hat. "Ich kann nur hoffen, dass ich wieder gesund werde, damit ich wieder arbeiten kann und es bergauf geht."

Weiter hinten stehen zwei Freundinnen, sie kennen sich aus einem gemeinnützigen Verein, wo sie sich bis zu drei Stunden am Tag etwas dazuverdienen. Damit sie sich mal eine Süßigkeit gönnen können, so erzählen sie, gingen sie Pfandflaschen sammeln.

Um die Folgen der Inflation abzuschwächen, hat die Bundesregierung unter anderem eine Gaspreis- und eine Strompreisbremse beschlossen, zu Beginn des Jahres hat die Ampel das Bürgergeld erhöht. Seitdem erhält etwa ein alleinstehender Erwachsener 53 Euro mehr als bisher. Menschen wie Bernd Siggelkow von der Arche in Hellersdorf stellen dazu fest: "Es reicht nicht, um ein Kind satt zu machen." Ihm zufolge ist sogar zu befürchten, dass Kinder mit Mangelerscheinungen im Krankenhaus landen.

Auch Organisationen wie Foodwatch befürchten, dass insbesondere im Kindes- und Jugendalter Fehlernährung und Adipositas weiter zunehmen: "Ungesunde Lebensmittel sind billiger als gesunde, deshalb weichen viele armutsbetroffene Menschen auf hochkalorische, nährstoffarme Nahrungsmittel aus, um irgendwie satt zu werden", warnt der Verein. Und: "In der Ermittlung des Regelsatzes wird überhaupt nicht berechnet, was gesunde Ernährung kostet, sondern der Regelbedarf davon abhängig gemacht, was sich andere leisten können oder nicht."

Ähnlich argumentiert die Linke: Die Grundsicherung reiche nicht aus, um sich gesund zu ernähren, erklärt die Bundestagsfraktion auf Anfrage. Die Partei fordert schon seit Längerem, die Kosten für eine "gesunderhaltende Ernährung" müssten bei der Berechnung des Bürgergeldes und der zukünftigen Kindergrundsicherung beachtet und angepasst werden.

Die Regierung sollte sich schämen, sagen manche

Bei der Suppenküche gibt es diesmal Kartoffelbrei mit Gulasch. "Schmeckt richtig lecker", sagt Falko, seine Armeejacke schlackert ihm um den dünnen Körper. "Ich wiege nur noch 52 Kilo", erzählt der 47-Jährige, wegen einer Stoffwechselkrankheit habe er 25 Kilo abgenommen. Er habe mit Corona seinen Minijob verloren, dann seine Wohnung, inzwischen lebt er in einer Unterkunft für Wohnungslose. "Ich gehe auf alle Wohnungsbesichtigungen, aber mich will niemand", sagt er.

Dabei würde ihm ein eigenes Zuhause vielleicht helfen, wieder gesund zu werden. Während er spricht, muss er immer wieder die Hände auf den Knien abstützen. Die Schlange verlassen, um sich hinzusetzen, will er aber nicht: "Wenn man alles verloren hat, freut man sich über jedes Paar Socken", sagt er. Außerdem brauche er Handschuhe, "vielleicht hab ich ja Glück".

Viele hat es Überwindung gekostet herzukommen. Aber einen Grund, sich zu schämen, sagen manche, hätten nicht sie - den habe die Regierung. Das sehe man ja daran, wie viele hier stehen müssten.

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