Armut in Deutschland (7): Altersarmut:"Die Armen sind unsichtbar"

Altersarmut wird in Deutschland zur Frage der Generation. Zwei Fallbeispiele: Sophie Kurz trägt einen Goldring mit einem leuchtenden Edelstein. Christine Hauslers Sandaletten waren der erste Schuhkauf seit Jahren.

Nina Jauker

"Wir waren auch mal Mittelstand mit Auto und Urlaub," sagt Christine Hausler (Name geändert). Heute fährt sie Fahrrad, solange es eben geht, denn im Winter muss sie die 15 Fahrkarten, die sie vom Sozialamt bekommt, gut einteilen. Die 59-Jährige lebt in München von Hartz IV, versorgt sich an der Münchner Tafel mit Lebensmitteln und fügt hinzu: "Man muss eben innerlich weiterlächeln." Auf der Straße sieht man der gelernten Speditionskauffrau nichts an. Zierlich, in einer weißen Marlene-Hose, blauer Bluse, das immer noch schöne braune Haar zum Pferdeschwanz gebunden, wirkt sie jünger als sie ist. Doch die Frisur ist kein Zufall. "Frisör kann ich mir nicht leisten", sagt sie. Und die hübschen Sandaletten waren der erste Schuhkauf seit Jahren, mit 30 Euro eine größere Investition. Noch reißt die Armut nur dort Löcher, wo es Außenstehende nicht sehen - Handtücher, Geschirr, die paar Möbel können nicht erneuert werden. Mit der Rente, sagt Christine Hausler, wird es nicht besser werden.

Armut in Deutschland (7): Altersarmut: Den meisten Rentnern geht es heute im Schnitt besser als vielen Familien. Doch bereits in der nächsten Generation droht Millionen Ruheständlern bittere Armut.

Den meisten Rentnern geht es heute im Schnitt besser als vielen Familien. Doch bereits in der nächsten Generation droht Millionen Ruheständlern bittere Armut.

(Foto: Foto: iStock)

Die letzten gutversorgten Rentner

Was die gebürtige Wienerin mit unglaublicher Energie erträgt, wird bald auf viele Deutsche zukommen. Der Armutsbericht der Bundesregierung zeigt zwar, dass es in der älteren Generation bislang noch weniger Arme gibt als unter kinderreichen Familien und Alleinerziehenden. Die Quote der Armen unter den Alten liegt bei 12,7 Prozent, das ist weniger als im Querschnitt der Bevölkerung und deutlich weniger als unter Haushalten von Alleinerziehenden, wo 40 Prozent als arm gelten. Doch die Ruheständler von heute sind die letzte Rentner-Generation, in der die allermeisten noch ein auskömmliches Einkommen hätten, sagt Michael Sommer, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Bald werden viele Menschen in Rente gehen, die ebenso wie Christine Hausler zerbrochene Erwerbsbiographien haben. Die zierliche Frau hat bei Speditionen gearbeitet, in der Lastwagenabfertigung. Nach den Geburten ihrer zwei Kinder blieb sie zunächst zu Hause, begann später wieder zu arbeiten - fand jedoch keine Vollzeitstelle mehr. Mit der Scheidung geriet sie vollends in finanzielle Turbulenzen. Ihre bisherige Wohnung wollte sie verlassen - ihr Ex-Ehemann war mit seiner neuen Lebensgefährtin nur ein Stockwerk unter ihr eingezogen. Mit dem Umweg über das Frauenhaus gelang es ihr, eine neue Bleibe zu finden. Jahrelang sucht sie Jobs. "Ich will und kann arbeiten, ich bin geistig und körperlich fit." Sie macht jede Schulung des Arbeitsamtes mit. "Ich habe immer gerne gelernt." Doch nach unzähligen auf ein paar Monate befristeten Stellen, unbezahlten Praktika und Aushilfsjobs weiß auch Hausler: "In der freien Wirtschaft hat jemand wie ich wenig Chancen."

Auf der nächsten Seite: Leben in der Senioren-Residenz - dicke Teppiche, separater Dinner-Raum, der Hund wird ausgeführt und der Koch gibt sich Mühe.

"Die Armen sind unsichtbar"

Der Wandel der Arbeitsverhältnisse führt dazu, dass in der nächsten Generation Millionen Rentnern bittere Armut droht. Wer heute auf Teilzeitstellen arbeitet, wer selbständig ist und dabei wenig verdient, wer Eltern pflegt oder wie Christine Hausler Kinder großzieht und schließlich arbeitslos wird, baut nicht genügend Versorgungsansprüche für die Rente auf: Diese "Hungerrentner" (Spiegel) von morgen zahlen wenig in die Sozialversicherung ein und haben zumeist kein Geld übrig, um zusätzlich privat oder betrieblich vorzusorgen. Entsprechend wenig Rente haben sie zu erwarten.

Essen wird serviert

Altersarmut wird das Problem der nächsten Jahre werden. Manche Experten befürchten, dass im Jahr 2030 gut die Hälfte der Deutschen im Ruhestand kaum mehr als die Grundsicherung bekommen wird. Diese Hilfe vom Staat, die inklusive dem Zuschuss für Miete und Heizung im Durchschnitt 660 Euro beträgt, benötigen heute gerade mal 2,4 Prozent der 20 Millionen Ruheständler.

Noch geht es den meisten Rentnern gut. In der Reklame werden quietschvergnügte "Best Agers" umworben, die ihren Lebensabend auf Konzerten, mit Restaurantbesuchen und ausgedehnten Reisen verbringen. Auch Sophie Kurz (Name geändert) plant dieses Jahr drei Reisen - nach Krakau, zu den Bregenzer Festspielen und nach Norwegen. Die 80-Jährige lebt in einer Seniorenresidenz im Münchner Süden, von der viele nur träumen können. Das Haus ist Teil der großen US-amerikanischen Kette Sunrise Domizile für Senioren. Eine große Freitreppe dominiert den Eingangsbereich, an der Fensterfront zum Garten liegt ein festlich eingedecktes Restaurant. Schwere Sofas, dunkle Esstische, dicke Teppiche, Vorhänge in warmen Farben, mittendrin stimmt der Klavierstimmer den schwarzen Flügel.

Frau Kurz' Appartement ist mit ihren eigenen Möbeln ausgestattet worden, ihre kleine Hündin wird bei Bedarf ausgeführt. Der Koch geht auf die Vorlieben und Abneigungen der einzelnen Bewohner ein, das Essen wird im Speisesaal oder im Appartement serviert. Hat die Witwe Gäste, steht ihr ein separater Dinner-Raum zur Verfügung, in dem sie sie unentgeltlich bewirten kann. Die Kräuterbeete im Garten sind erhöht - damit sich die gärtnernden Senioren nicht bücken müssen. Jeden Tag werden Aktivitäten angeboten - zum Beispiel Waffelnbacken, ein Ausflug nach Hellabrunn zu dem Tier, für das das Domizil eine Patenschaft übernommen hat, Gymnastik - an denen Frau Kurz nur gelegentlich teilnimmt. Die Münchnerin ist immer noch aktiv, in der Stadt unterwegs zum Frisör oder ins Café, sie schreibt Briefe, liest sehr gern und hat soeben Karten fürs Theater besorgt.

Selbständigkeit ist teuer

Das alles kommt nicht von ungefähr. Sophie Kurz hat jahrelang als Chefsekretärin in einem großen Unternehmen gearbeitet. Ihr Ehemann hat als Abteilungsleiter in einem internationalen Konzern gut verdient. Kinder hatten sie keine, dafür in der Zeit der Hochzinspolitik ein glückliches Händchen bei Spekulationen. Heute verfügt die Witwe über ihre gesetzliche Rente, die Betriebsrente und die Witwenrente. "Ich habe Glück gehabt," sagt Sophie Kurz. "Allerdings habe ich auch jahrzehntelang ohne Unterbrechung gearbeitet." Denn es ist teuer, wenn man den bisherigen Lebensstandard und die Selbständigkeit nicht mit dem Renteneintritt abgeben will. Das günstigste Zimmer im Seniorendomizil kostet 3200 Euro im Monat.

Auf der nächsten Seite: Die Rentnergeneration von morgen - im Gegensatz zur "Eisenbahner-Witwe" auf das "Wolferl" angewiesen.

"Die Armen sind unsichtbar"

"Die Generation, die in den neunziger Jahren in Rente gegangen ist, hat wundervolle Berufsverläufe. Das waren goldene Zeiten", sagt der Soziologe Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Diese Senioren haben ihre Karriere in der Nachkriegszeit begonnen; Arbeitslosigkeit war lange kein Thema. Hier sind oft gute Rücklagen vorhanden - im Gegensatz zur vorausgegangenen Generation. Wer noch seine besten Jahre als Soldat im Zweiten Weltkrieg, in Gefangenschaft oder als Trümmerfrau verbracht hatte, kämpfte im Alter ebenso mit der Armut wie die zukünftigen Rentner. "Diese alten Frauen waren außerdem oft zu stolz, um sich finanzielle Unterstützung zu holen. Für die war es eine Schande, wenn man zum 'Wolferl', also zu den Wohlfahrtsverbänden gehen musste," sagt Christine Hausler.

Wanderausflug als Luxus

Sie selbst wird, wie viele in der kommenden Generation von Rentnern, auf das "Wolferl" angewiesen sein. Christine Hausler hatte nach ihrer Scheidung weiterhin zwei Grundschulkinder zu versorgen. "In dieser Zeit habe ich meine Kinder im Laufschritt durch die Stadt gezogen, wenn wir wirklich mal etwas kaufen mussten. Nur nicht nach links und rechts gucken, war die Devise." Eine klassische Biographie, die vor allem für viele ältere Frauen zum Problem wird. Wer während der Familienphase Teilzeit arbeitet oder sich als Alleinerziehende um kleine Kinder kümmert und schließlich bei der Rückkehr in den Beruf scheitert, ist bei Renteneintritt in der Regel schlecht versorgt.

Mit den Lebensmitteln von der Tafel kommt Christine Hausler heute zurecht. Fleisch kauft sie sich nur manchmal am Monatsanfang, denn nach allen nötigen Ausgaben bleiben ihr 50 Euro zum Leben, sagt sie. Und zehn Euro investiert sie jeden Monat in einen Ausflug mit der Arbeitsloseninitiative Westend. Fünf Euro für die Fahrt an einen der bayerischen Seen oder in die Berge, fünf Euro für eine Brotzeit. "Das muss sein, man muss wenigstens alle paar Wochen aus der Stadt raus." In ihrer winzigen Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Randbezirk von München stapelt sich Papier. "Ich bin ein Zeitungsmessie - trau mich keinen mehr einzuladen." Einen Computer besitzt sie nicht, deshalb sammelt sie Veranstaltungshinweise und Zeitungsartikel - alles, wo man umsonst ein bisschen Kultur erleben kann. So ist sie trotzdem ständig unterwegs, engagiert sich im Altenservicezentrum in Hadern, im Sportverein der Blumenau, in der Arbeitsloseninitiative im Westend.

Über Angebote für Hartz-IV-Empfänger, nötige Behördengänge und Beratungsstellen weiß Christine Hausler genau Bescheid und gibt ihr Wissen weiter. "Dieses Jahr ist Stadtgeburtstag in München - Konzerte umsonst, das ist eine wunderbare Gelegenheit für uns." Wo andere längst resigniert hätten, hält sie sich mit Energie und Selbstbewusstsein aufrecht. Neid auf die, die es besser haben? "Wenn ich die Eisenbahner-Witwen im Café sitzen sehe, denke ich mir schon: Die leben ja in Saus und Braus. Andererseits muss man sagen: Die wirklich armen Alten sind nicht auf der Straße unterwegs wie ich. Die sitzen daheim und wissen nicht, wo sie Hilfe bekommen können. Die wirklich Armen sind unsichtbar."

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