Armenier:Selbstverständlich ein Völkermord

Der Bundestag debattiert über die Massaker an den Armeniern vor hundert Jahren - und schließt sich Bundespräsident Joachim Gauck einmütig an: Es war ein Genozid.

Von Nico Fried und Luisa Seeling, Berlin/München

Es war genau neun Uhr, als Norbert Lammert die Sitzung des Bundestags am Freitag eröffnete. Und keine zwei Minuten später war das Wichtigste eigentlich schon gesagt. Denn der Parlamentspräsident ließ es sich nicht nehmen, vor dem Aufruf des ersten Tagesordnungspunktes, dem 100. Jahrestag der Verfolgung und Ermordung der Armenier im Osmanischen Reich, eine kurze Ansprache zu halten.

Lammert zitierte die Definition eines Genozids im Völkerrecht und fügte gleich hinzu: "Das, was im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, war ein Völkermord." Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als habe es all die Debatten in den vergangenen Tagen und Wochen gar nicht gegeben, die Debatten darüber vor allem, ob dieses Wort im deutschen Parlament benutzt werden sollte. Lammerts eindeutiges Statement war schon eine kleine Überraschung, denn der Präsident nahm damit das Ergebnis der Debatte schon vorweg, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht angefangen hatte. Freilich hätte sich Lammert darauf berufen können, dass der Begriff des Völkermordes in allen Anträgen zum Gedenken enthalten ist, bei Linken und Grünen sowieso, aber mittlerweile eben auch im Antrag der Koalitionsfraktionen Union und SPD. Folglich erhielt der Bundestagspräsident am Ende auch Beifall aus dem ganzen Plenum - nur nicht von der Regierungsbank, auf der Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier Platz genommen hatten. Allerdings hatte das nichts zu bedeuten, denn es ist schlicht nicht üblich, dass auf der Regierungsbank applaudiert wird.

Ankara verärgert

Die Aussagen von Bundespräsident Joachim Gauck zum Völkermord an den Armeniern haben eine diplomatische Krise mit der Türkei ausgelöst. "Das türkische Volk wird dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussagen nicht vergessen und nicht verzeihen", teilte das Außenministerium in Ankara am späten Freitagabend mit. Gauck habe keine Befugnis, der türkischen Nation eine Schuld anzulasten, die den historischen Fakten widerspreche. Das Ministerium warnte vor "langfristigen negativen Auswirkungen" auf das deutsch-türkische Verhältnis. Zuvor war im armenischen Patriarchat in Istanbul bei einem Gedenkgottesdienst eine Erklärung des türkischen Präsidenten Erdoğan verlesen worden. Darin sprach er den Armeniern sein Beileid aus, der Begriff "Völkermord" fiel aber nicht. SZ

Erst allmählich war in den vergangenen Tagen die Bereitschaft in der Bundesregierung gewachsen, sich einer Aufnahme des Begriffs des Völkermordes in den Antrag der Koalitionsfraktionen nicht länger zu widersetzen. Das wichtigste öffentlich vorgetragene Argument für die ursprüngliche Zurückhaltung hieß, dass man den Aussöhnungsprozess zwischen Armeniern und Türken nicht gefährden wollte. Von Bedeutung dürfte aber auch gewesen sein, dass man den Nato-Partner Türkei, der das Wort vom Völkermord vehement ablehnt, nicht brüskieren wollte.

Bewegung kam in die Sache, als bekannt wurde, dass der Bundespräsident am Vorabend der Bundestagsdebatte den Begriff Völkermord benutzen würde. Grünen-Parteichef Cem Özdemir dankte dann auch zuerst Joachim Gauck und würdigte "eine gewisse Portion Unbeirrbarkeit". Dieses Lob erweiterte er auf den Bundestagspräsidenten - nur die Mitglieder der Bundesregierung könne er nicht einschließen. Diese habe "nur das Narrativ der türkischen Regierung wiederholen wollen", wonach es sich nicht um einen Völkermord gehandelt habe. Er glaube nicht, dass eine solche Haltung zur Versöhnung beitragen könne, so Özdemir.

44 Meter hoch

ist der Obelisk aus Basalt in der Genozid-Gedenkstätte auf einem Hügel in der Hauptstadt Eriwan. Er soll weithin sichtbar die Standhaftigkeit des armenischen Volkes verkörpern. In einer 100 Meter langen Mauer sind die Namen der Städte und Dörfer verewigt, aus denen die Armenier im Osmanischen Reich vertrieben worden waren. dpa

"Nichts ist vergessen", sagt Armeniens Präsident 100 Jahre nach den Morden

Niemand in der mehr als einstündigen Debatte wich von dem ab, was mittlerweile erkennbar Mehrheitsmeinung im Parlament ist. Kein Mitglied der Bundesregierung ergriff das Wort. In der Rede von Gernot Erler (SPD), einst Staatsminister im Auswärtigen Amt, spürte man noch am ehesten die Spuren der schwierigen Abwägung für manchen Parlamentarier. Erler sprach etwas verschwiemelt von der "genozidalen Verfolgung" der Armenier. Sein Parteifreund Dietmar Nietan wurde da deutlicher. Nietan war es zuvor schon gewesen, der die Unzufriedenheit vieler Abgeordneten mit der Zurückhaltung der Bundesregierung als einer der Ersten unmissverständlich öffentlich gemacht hatte. Nun, in seiner Rede im Bundestag, zitierte Nietan eine Mahnung aus der Rede des Auschwitz-Überlebenden und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel im Jahr 2000 am selben Rednerpult: "Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal." Deshalb sei es wichtig, auch für die Verfolgung der Armenier den Begriff des Völkermordes zu verwenden, so Nietan.

Auch Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, ließ es an Klarheit nicht fehlen. Das Wort vom Völkermord sei Reduktion des Geschehens auf einen Begriff. Doch nur dieser Begriff beschreibe die wirkliche Dimension des Geschehens. Der Linken Ulla Jelpke ging die etwas verklausulierte Formulierung im Antrag der großen Koalition nicht weit genug. Zudem werde die Rolle der Deutschen nicht ausreichend klargestellt. Es habe sich eindeutig um Beihilfe zum Völkermord gehandelt, so Jelpke.

Die Türkei reagierte unterdessen verärgert auf die Rede von Bundespräsident Gauck. Mit scharfen Worten wies das Außenministerium in Ankara dessen Aussagen zum Völkermord zurück. "Das türkische Volk wird dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussagen nicht vergessen und nicht verzeihen", teilte das Ministerium am späten Freitagabend mit. Zuvor hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Nachfahren der Opfer sein Beileid ausgesprochen. Er gedenke "aller osmanischen Armenier mit Respekt, die unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs ihr Leben verloren haben", teilte er in einer Erklärung mit, die in einem Gedenkgottesdienst im armenischen Patriarchat in Istanbul vorgelesen wurde. Der Begriff Völkermord kam darin nicht vor. In Armeniens Hauptstadt Eriwan gedachten Regierungsvertreter und Hinterbliebene der Opfer mit einer Schweigeminute. "Nichts ist vergessen, auch nach hundert Jahren erinnern wir uns", sagte Armeniens Präsident Sersch Sargsjan.

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