Wer dieser Tage nach Eriwan kommt, kann erleben, dass sich die Lage beruhigt hat. Die große Euphorie jedenfalls ist vorbei, mit der die Menschen bergeweise Blumen vor der deutschen Botschaft ablegten und den Deutschen in der armenischen Hauptstadt via Telefon, via Briefen, via Beifall auf offener Straße ihre Freude zeigten. Dass der Bundestag Anfang Juni den Völkermord an den Armeniern vor 101 Jahren nach einigen politischen Wendungen tatsächlich einen Völkermord genannt hat, ist für die knapp drei Millionen Armenier in der Tat Freude und ein großes Fest gewesen.
Die Genugtuung darüber freilich ist noch nicht verflogen, auch nicht am Mittwochabend, als Frank-Walter Steinmeier zu Besuch kommt. Außenminister Edward Nalbandian, Staatspräsident Serzh Sargsyan, dazu ihre vielen Mitarbeiter - alle begrüßen den Deutschen mit großem Dank für diesen "sehr wichtigen Schritt", wie es Nalbandian später ausdrückt.
So gesehen könnte die Visite ein Besuch sein wie auf Blumen gebettet. Doch Stein-meier ist für derlei nicht geschaffen. Auch nach einem Jahr wilder Debatten kann der Außenminister sich nur mühsam und mit Abstand auf die Resolution einlassen. Als ob ihm das Ding wie ein Ärgernis am Fuß hängt, erklärt der Minister, er habe die Resolution mitgetragen. Aber er halte wenig davon, "Konflikte auf einen einzigen Be-griff" zu reduzieren. Merkwürdig kühl wirkt diese Distanzierung, denkbar ernüchtert wirkt plötzlich sein Nachbar.
Dabei könnte längst alles klar sein. So wie es für viele andere Nationen seit Jahren kein Problem mehr darstellt. Das Gefühl drängt sich jedenfalls auf, wenn man auf dem Hügel über der Stadt dem Mahnmal für die Toten einen Besuch abstattet. Präsidenten, Regierungschefs, auch Abgeordnete aus zahlreichen Staaten haben hier Zeugnis ihres Gedenkens an den Genozid abgelegt. Russen und Amerikaner, Polen und Franzosen, dazu zwei Päpste haben Bäume gepflanzt, um neue Hoffnung zu säen. Putin, Hollande, Papst Franziskus - viele Namen sind es. Nur Deutschland fehlt, was sich natürlich ändern ließe.
An Steinmeier aber zerschellen solche Gedanken. Er legt einen Kranz nieder; sei-ne Delegation reiht weiße Nelken um das ewige Feuer. Auf einen Baum aber wartet man wieder vergeblich. Ausgerechnet dort, wo sie besonders der Opfer gedenken, bleibt Deutschland in der zweiten Reihe. So verstärkt sich in der Stille von Mahnmal und Wäldchen der Eindruck, dass Steinmeier und das V-Wort nicht mehr zueinander finden. Der Minister, so heißt es, wolle einen "Hauch von Distanz" halten. Manchmal erzählt das, was man nicht macht, viel mehr als jene tausend Worte, die man sonst zu allem findet.
Distanz halten können im Übrigen auch Steinmeiers Gastgeber. Sie wissen genau, dass der amtierende OSZE-Vorsitzende nicht nur zur Unterschrift unter ein Doppelbesteuerungsabkommen angereist ist. Der Konflikt um Berg Karabach, jener Enklave im Nachbarland Aserbaidschan, in der 200 000 Armenier leben, gehört zu den schmerzhaften, weil bisher hoffnungslosen Kapiteln der OSZE-Geschichte. Die Gewaltausbrüche vor zwei Monaten zeigten, dass Russen und Amerikaner in der Not einiges bewegen können. Doch seit wieder die alte, wackelige Ruhe herrscht, stocken die Vermittlungsbemühungen - und verlängert sich der Stillstand.
Also mahnt und hofft Steinmeier, wie er es immer und überall tut. Er betont, dass der "Status quo" neue Gefahren berge; er appelliert an Armenier und Aserbaidschaner, mit der neuen Waffenruhe das "Momentum" zu nutzen. Und er warnt davor, dass Stillstand nur neue Eskalation provoziere. Was er nicht sagt, obwohl er es möglicherweise gern täte: Kommt endlich zur Vernunft, Ihr Streithälse.
Und was machen die? Das, was sie seit zwanzig Jahren tun: Sie schimpfen auf den Gegner. Das bekommt Steinmeier in Eriwan wie in Baku zu hören. Armeniens Außenminister Nalbandian bleibt im Ton freundlich, gibt aber in allem Aserbaidschan die Schuld. Die Schuld daran, dass selbst die letzten Vereinbarungen nicht wirklich halten; dass es noch immer Streit darüber gibt, ob die OSZE die Zahl ihrer Beobachter von sechs auf zwölf erhöhen darf; und natürlich daran, dass Baku die Führung in Berg Karabach einfach nicht anerkennen möchte. In Baku klingt das kaum anders. Auch Aserbaidschans Außenminister Elmar Mammadyarov lächelt sehr freundlich - und erklärt trocken, der Konflikt könne schnell gelöst werden, wenn Armenien alle Soldaten abziehe und alle Flüchtlinge zurückkehren dürften. Njet bleibt Njet, in Eriwan wie in Baku.
Nun ist das schon für normale Besucher schwer auszuhalten. Auf einen OSZE-Vorsitzenden muss es besonders bitter wirken. Bemüht sich die Organisationen doch seit Jahrzehnten um ein wenig Entspannung. Irgendwann rutscht Steinmeier der Satz raus, man habe auf dem Weg zu Verhandlungen leider "noch nicht mal das Eingangstor gefunden". So kann man es auch zusammenfassen.