Armenien-Resolution:"Uns Deutschtürken wird jetzt ein Stempel auf die Stirn gedrückt"

Armenien-Resolution: Demonstranten protestieren am Brandenburger Tor in Berlin gegen die Armenien-Resolution des Bundestages.

Demonstranten protestieren am Brandenburger Tor in Berlin gegen die Armenien-Resolution des Bundestages.

(Foto: AP)

Der Bundestag entscheidet darüber, ob die Massaker an Armeniern als Völkermord zu bezeichnen sind. Es ist eine Abstimmung, die Türkeistämmige in Deutschland aufwühlt.

Von Deniz Aykanat und Benedikt Peters, Berlin

Das Brandenburger Tor ist möglicherweise der Ort in Deutschland, an dem die meisten Selfies geschossen werden. Das ist auch an diesem Abend nicht anders, es ist halb sieben, nach langen Regengüssen ist die Sonne wieder herausgekommen - und ein Mann mit grünem Polohemd reckt auf dem Platz den Arm in die Höhe und lächelt in sein Smartphone.

Eines aber unterscheidet den Mann von den Touristen, die normalerweise hier stehen: Um den Hals hat er ein riesiges rotes Tuch gebunden. Gleich, wenn das Foto geknipst ist, wird er den Knoten lösen. Ein weißer Halbmond und ein Stern werden zum Vorschein kommen. Mit der ausgebreiteten Türkeifahne wird er sich dann in die Protestmenge werfen, die hier, im Herzen Berlins, weiter und weiter anschwillt.

Der Mann, braun gebrannt, schütteres weißes Haar, heißt Ali Koroş. Seit acht Jahren sei er in Deutschland, sagt er, er lebe in Hamburg. Aber an diesem Tag habe er einfach herfahren müssen.

Der Grund, warum Koroş da ist, liegt Luftlinie keine 500 Meter entfernt. Über den Baumwipfeln kann man noch die berühmte gläserne Kuppel des Reichstagsgebäudes sehen, den Sitz des Bundestags. An diesem Donnerstag werden die Parlamentarier darüber abstimmen, ob die vom Osmanischen Reich verübten Massaker und Todesmärsche an den Armeniern 1915 und 1916 als "Völkermord" einzustufen sind. Die entsprechende Resolution wird aller Voraussicht nach angenommen. Die Regierung der Türkei, dem Rechtsnachfolger des Osmanischen Reichs, hat vehement gegen die Abstimmung protestiert. Und dies tun auch Zehntausende Türkischstämmige in Deutschland. Am Abend vor der Abstimmung sind es etwa 2000.

Sie schwenken Fahnen und halten Schilder hoch. "Nein zur Völkermordlüge" steht da oder "Gegen den Hass" - auf Deutsch und auf Türkisch. Aus den Boxen von der Bühne schallt orientalische Musik, dissonant, melancholisch. "Die Lieder sind Ausdruck unserer Gefühle", sagt eine Rednerin. "Sie erzählen von Leid und Trauer." Viele Demonstranten nicken zustimmend, auch Ali Koroş, der Mann mit der großen Türkeifahne.

Es gehe gar nicht darum, ob die Bezeichnung "Völkermord" korrekt sei oder nicht, sagt er dann. Es geht ihm vielmehr um die Zuständigkeit. "Die liegt einfach nicht beim Bundestag." Er redet sich in Rage, wird lauter, schwitzt. "Das Parlament kann doch überhaupt nicht entscheiden, was ein Völkermord ist", ruft er. "Das können nur die Gerichte."

Eines sei ihm noch wichtig, sagt er, bevor er in der Menge verschwindet. "Mit den Deutschen hat mein Protest nichts tun. Ich mag Deutschland sehr, habe viele Freunde, das ist meine Heimat."

Falsche Informationen?

Sehr viele der Menschen, die an diesem Abend vor das Brandenburger Tor gezogen sind, sehen das ganz offensichtlich genauso. Der weiße Halbmond auf rotem Grund ist zwar die häufigste Fahne. Doch auch viel Schwarz-Rot-Gold ist zu sehen. An diesem Abend treffen sich Menschen, die sich beiden Nationen zugehörig fühlen - und die eine Abstimmung in einem Parlament verletzt, das auch sie vertritt.

Hilal Elmaci zum Beispiel, eine junge Jura-Studentin aus Frankfurt am Main. Sie blinzelt unter den roten Gläsern ihrer John-Lennon-Brille. Wie Ali Koroş findet auch sie, Gerichte sollten über den Begriff Völkermord urteilen, nicht der Bundestag. Die anstehende Abstimmung beklemmt sie. "Ich habe das Gefühl, uns Deutschtürken wird jetzt ein Stempel auf die Stirn gedrückt, auf dem 'Mörder' steht. Ich habe Angst, dass das die Stimmung zwischen den Türkischstämmigen und anderen Deutschen verändert. Bis jetzt war die doch eigentlich sehr gut."

Keine inhaltliche Debatte

Immer wieder sprechen Redner von der Türkischen Gemeinde ein paar Sätze ins Mikrofon, erst auf Türkisch, dann auf Deutsch. In verschiedenen Varianten ist es das immer gleiche Argument: "Der Bundestag hat das nicht zu entscheiden. Sondern die Gerichte. Oder die Wissenschaftler."

Letzteres befürworten auch Sudettin Yücel und Salama Özer, die beiden sind aus Salzgitter gekommen. "Wir würden akzeptieren, dass es ein Völkermord ist, wenn das Historiker sagen", sagt Yücel. Dass viele Historiker tatsächlich die These vom Genozid vertreten, ignorieren sie dann aber geflissentlich. Stattdessen hält Yücel einem den Artikel des Internetportals "Deutsch Türkische Nachrichten" unter die Nase, in dem ein US-Wissenschaftler die Gegenthese vertritt - kein Völkermord - als sei das der Beweis.

Eine inhaltliche Debatte findet auf der Demonstration nicht statt. Einen Deutschtürken, der anderer Meinung ist als die hier Versammelten, überrascht das nicht. Kazım Erdoğan, der im wenige Kilometer entfernten Berliner Stadtteil Neukölln als Psychologe arbeitet, ist davon überzeugt, dass viele Türken falsche Informationen glaubten. "Die Geschichtsbücher in der Türkei sind zu einseitig. Da ist nur von Heldengeschichten die Rede und wo die Osmanen überall waren."

Für Erdoğan, der mit dem türkischen Präsidenten nichts gemein hat außer den Nachnamen, steht es außer Zweifel, dass die Bezeichnung "Völkermord" angemessen ist. Früher, in seinem Geburtsort Gökçeharman in Zentralanatolien hätten viele Ruinen armenischer Häuser standen, erzählt er.

"Das tut uns leid"

"Meine Großeltern haben den Genozid live miterlebt und mir davon erzählt. Ich bereue, dass ich die Geschichten meiner Großmutter nicht auf Tonband aufgenommen habe. Und ich schäme mich als Mensch dafür, was passiert ist." Einmal, sagt er, erzählte seine Großmutter von einer Reise in die Kreisstadt Sivas. Dort hätten sie einen Armenier abgeschlachtet und mit seinem Kopf Fußball gespielt.

Die Abstimmung im Bundestag findet er richtig. "Wobei es fast zu spät ist. Ich frage mich, warum man so lange damit gewartet hat." Er wundere sich, sagt Erdoğan, warum so viele Menschen Schwierigkeiten damit hätten, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Seine Antwort: "Ich denke, für viele Menschen fühlt sich das Wort 'Völkermord' wie ein Schuldeingeständnis an. Man sollte einfach sagen: 'Menschen wurden getötet, das tut uns als Menschen leid.'"

Dieser Satz ist wahrscheinlich der einzige, den sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Abstimmung im Bundestag unterschreiben würden.

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