Die Ränge der Abgeordneten und die Zuschauertribünen im Bundestag sind gut gefüllt, hohe kirchliche Würdenträger der Armenier sitzen in der ersten Reihe. Auf den Bänken der Bundesregierung dagegen: gähnende Leere. Kanzlerin Merkel fehlt ebenso wie Außenminister Steinmeier oder Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel.
Ein Versuch, die Türkei zu beschwichtigen, die so dringend dafür gebraucht wird, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten? Wenn dem so war, dann ist er schiefgegangen: Kurz nachdem der Bundestag seine Resolution über den Völkermord an den Armeniern verabschiedet hat, kracht es auf allen diplomatischen Kanälen. Die Türkei gibt sich keine Mühe, ihren Ärger über die Entscheidung zu verbergen.
Der türkische Botschafter wird aus Berlin abberufen, ein Vertreter der deutschen Botschaft ins türkische Außenministerium einbestellt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zürnt bei einem Besuch in Nairobi, die Entscheidung des Bundestags werde das deutsch-türkische Verhältnis "ernsthaft beeinflussen". Ministerpräsident Binali Yıldırım nennt die Entscheidung "falsch", und der Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu geht auf Twitter so weit, Deutschland vorzuwerfen, mit der "verantwortungslosen und haltlosen" Resolution von den "dunklen Seite der eigenen Geschichte" ablenken zu wollen.
Am 24. April 1915 begann die armenische Katastrophe. Zeitgenössische Bilder zeugen von Vertreibung, Hunger und Tod. Sie sind bis heute ein wichtiger Beweis für den Völkermord.
Diejenigen im Bundestag, deren Plätze an diesem Donnerstag nicht leer geblieben sind, haben die scharfen Reaktionen aus Ankara wohl erwartet. So betont Parlamentspräsident Norbert Lammert gleich zu Beginn der Debatte: "Demonstrationen gegen die Armenien-Resolution sind zulässig. Genauso zulässig ist es, dass der Bundestag Schlüsse aus politischen Debatten zieht."
Auch Franz-Josef Jung, stellvertretener Fraktionsvorsitzender von CDU und CSU, rechtfertigt erst einmal, warum der Bundestag zu diesem Thema überhaupt zusammenkommen soll und darf: "Der Versöhnungsprozess zwischen der Türkei und Armenien ist gestoppt worden. Wir wollen dem Prozess einen neuen Impuls geben. Wir müssen alles tun, damit Völker nicht wieder Opfer von Hass und Verfolgung werden."
Und Gregor Gysi von der Linken appelliert an die Türkinnen und Türken und an Türkeistämmige in Deutschland, die am Vorabend in Berlin gegen die Resolution demonstriert haben: "Nur mit der Anerkennung ist der Weg zur Versöhnung frei."
"Die Deutschen leisteten Beihilfe"
Die Kritik aus Ankara blendet auch aus, dass sich der Bundestag durchaus mit der "eigenen dunklen Geschichte" Deutschlands beschäftigt. In der Resolution ist auch von der deutschen Schuld die Rede. Schon vor mehr als 100 Jahren sei hierzulande bekannt gewesen, was im Osmanischen Reich geschah. Verhindert wurde es nicht. "Die Deutschen leisteten Beihilfe. Deshalb müssen wir zur Aufklärung beitragen", sagt Gysi.
Grünen-Chef Cem Özdemir, einer der Initiatoren der Resolution, zitiert den damaligen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Dieser antwortete dem deutschen Botschafter Graf Paul Wolff-Metternich zur Gracht, nachdem dieser ihn im Dezember 1915 aufforderte, endlich gegen die Armenier-Massaker des türkischen Verbündeten vorzugehen: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen."
Vor dem Bundestag hat sich ein kleines Grüppchen Resolutions-Unterstützer zusammengefunden, es steht dicht gedrängt um einen Lautsprecher, der die Stimmen der Redner im Bundestag nach draußen trägt. Während Özdemir spricht, lauschen die Menschen ruhig, fast andächtig. Ihre Fahnen - die von Armenien, Griechenland und der pro-kurdischen HDP - wehen sachte im Wind.
Alles ist friedlich - bis ein türkisches Kamerateam ein paar Meter entfernt Aufstellung nimmt. Der Reporter, in seiner rechten Hand ein Mikrophon, sagt etwas auf Türkisch in Richtung der Demonstranten. "Er hat mich eine Schlampe genannt", ruft eine Frau, "eine PKK-Schlampe". Demonstranten kommen herüber, schreien den türkischen Reporter an. Die Situation droht zu eskalieren - bis etwa ein Dutzend Bereitschaftspolizisten dazwischen gehen. Die Frau erstattet Anzeige wegen Beleidigung - und der türkische Reporter arbeitet in Ruhe weiter.
In der ersten Reihe der etwa 100 Menschen, die vor dem Parlament demonstrieren, steht Shant Dimitri Guloglu. Er habe griechische und armenische Wurzeln, sagt er. Jetzt arbeitet er als Mechatroniker in Salzgitter. Auf dem Transparent, das der junge Mann mit der Hornbrille in den Händen hält, steht: "Sag die Wahrheit: Völkermord".
Er sei froh über die Abstimmung im Bundestag, sagt Guloglu. "Jetzt bekommen wir endlich Aufmerksamkeit in Deutschland. Ich finde das wichtig, weil das Deutsche Reich eben auch eine Mitschuld an dem Genozid trug. Die Resolution muss sein, auch wenn sie vielen Türken nicht gefällt."
Erst heute ist deutlich, wie verstrickt Deutschland in den Genozid an den Armeniern 1915 war. Dabei klang die Mitschuld schon in Franz Werfels "Die 40 Tage des Musa Dagh" an.
"Die Türkei hat die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft"
Im Plenarsaal sind die Worte der Redner vor allem davon geprägt, den Türken und Türkeistämmigen eben dies klar zu machen: Die Resolution ist keine Anklageschrift.
Jung sagt, dass es nicht um Schuldzuweisungen gegenüber der heutigen Türkei gehe: "Wir Deutschen wissen genau, wie schmerzhaft die Aussöhnung mit den Nachbarn ist. Was vor 100 Jahren passierte, ist nicht die Schuld der türkischen Regierung, die Türkei ist hier nicht auf der Anklagebank. Aber die Türkei hat die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft."
"Die heute Lebenden tragen keine Schuld, aber wir tragen Verantwortung. Der Völkermord ist auch ein Stück deutscher Geschichte", sagt Özdemir.
Aus der Debatte wird klar: Viele Türken und Türkeistämmige in Deutschland sind auch deshalb so erzürnt über die Resolution im Bundestag, weil sie eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte, wie sie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand, nie durchliefen. Auch in Deutschland war der Prozess, wie viele Redner es ausdrücken, schmerzhaft.
Gregor Gysi weist darauf hin, dass erst der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit seiner Rede vom 8. Mai 1985 und der Bezeichnung des Kriegsendes als "Tag der Befreiung" eine Erinnerungskultur in Deutschland prägte. Also erst 40 Jahre nach Ende des Krieges. Gysi fragt: "Warum fällt es der türkischen Regierung 100 Jahre später so schwer, das was geschah, ehrlich zu benennen und aufzuarbeiten?"
Die Unterschiede in der Auffassung darüber, wie man der eigenen Vergangenheit gegenübertritt, sind eklatant. Das zeigen die Diskussionen der letzten Wochen.
Es geht in der Debatte viel um die Türkei und um Deutschland. Um den Flüchtlingsdeal. Es geht über weite Strecken über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, die Angriffe auf die türkische Presse, die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der pro-kurdischen HDP.
Viele Redner sind dennoch sehr bemüht, die Wogen zu glätten. In den Tagen zuvor hatte vor allem Präsident Erdoğan großen Druck ausgeübt und davor gewarnt, dass die Resolution die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland gefährden werde.
Und so wird das Engagement der Türkei gegenüber syrischen Flüchtlingen von fast jedem Redner speziell hervorgehoben. Man versucht, den Partner nicht zu verärgern und die Auswirkungen auf das Tagesgeschäft so klein wie möglich zu halten.
"Es geht nicht um eine Beurteilung von Erdogan"
"Wir würdigen ausdrücklich die Verantwortung, die die Türkei für Flüchtlinge übernimmt", sagt Lammert. "Der Gegenstand der Debatte ist der Völkermord an den Armeniern und nicht die Beurteilung Präsident Erdoğans. Man darf Außenpolitik nicht mit Schaum vor dem Mund betreiben", sagt Rolf Mützenich, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD.
Fast könnte man den Eindruck bekommen, es gehe gar nicht um Armenier. Und überhaupt: Die Bundestagsdebatte ist eigentlich gar keine Debatte. Denn die Redner der Fraktionen sind sich einig, dass das, was vor 100 Jahren im Osmanischen Reich geschah, ein Völkermord war.
Einzig Gregor Gysi beginnt seinen Beitrag mit einem Seitenhieb in Richtung CDU/CSU, weil diese keinen Antrag zur Armenien-Resolution gemeinsam mit der Linken einbringen wollten. Und er kritisierte, dass weder Kanzlerin Merkel noch Gabriel noch Steinmeier an der Debatte teilnehmen. Das sei "auch nicht besonders mutig", sagt er.
Nach den Reden verabschiedet der Bundestag die Resolution mit nur einer Gegenstimme aus der CDU/CSU-Fraktion, es gibt eine Enthaltung. "#Anerkennungjetzt sagt Danke", steht auf Plakaten, die mehrere Armenier in den Zuschauerrängen anschließend nach oben halten.
