Armenien:Per Rücktritt zur Macht

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Liebling der Massen: Nikol Paschinjan genießt das Vertrauen von bis zu 90 Prozent der Armenier. (Foto: Hayk Baghdasaryan/Reuters)

Armeniens Premier gibt sein Amt auf. Er strebt eine Neuwahl an, um sich Rückhalt im Parlament zu verschaffen.

Von Julian Hans, Moskau

Mit seinem Rücktritt hat Armeniens Premierminister einen Prozess eingeleitet, der seine Macht auf eine neue legale Basis stellen soll. "Mein Rücktritt ist keine Flucht vor der Verantwortung, im Gegenteil", sagte Nikol Paschinjan am Dienstagabend in einer vom armenischen Fernsehen übertragenen Rede. Der Schritt sei notwendig, "damit das Parlament neu gewählt werden kann und die Macht auf das Volk übertragen wird". Damit solle die Revolution abgeschlossen werden.

Fünf Monate nachdem er friedliche Proteste im ganzen Land angeführt und den ehemaligen Präsidenten Sersch Sargsjan auf diese Weise von der Macht vertrieben hat, genießt Paschinjan weiter das nahezu ungeteilte Vertrauen der knapp drei Millionen Bürger Armeniens. Einen Eindruck davon gaben die Wahlen in der Hauptstadt Eriwan Ende September, bei denen Paschinjans Parteienbündnis mehr als 80 Prozent der Stimmen bekam.

Während viele Posten in dem Staat im Südkaukasus in den vergangenen Monaten neu besetzt wurden, bildet das Parlament nach wie vor die alten Machtverhältnisse ab. Es wurde erst Anfang April gewählt, wenige Wochen, bevor die Proteste begannen. Von den 105 Sitzen besetzt die Republikanische Partei 50, sie ist die Partei der alten Eliten und gilt als politische Plattform für korrupte Seilschaften und kriminelle Gruppen.

Im Mai hatten ihre Abgeordneten gleichwohl unter dem Eindruck wochenlanger Proteste Hunderttausender Bürger Paschinjan zum Regierungschef gewählt. Dieser hatte von Anfang an Neuwahlen nach einer Reform des Wahlrechts versprochen, die Manipulationen und Stimmenkauf in Zukunft verhindern soll.

Bei neuen Wahlen müssten die Republikaner Umfragen zufolge um ihren Wiedereinzug ins Parlament fürchten. Damit stehen sie vor der Wahl, ihre letzte Bastion freiwillig aufzugeben, oder einen neuen Aufstand wie im Frühjahr zu riskieren. Die Verfassung sieht Neuwahlen vor, wenn das Parlament nach einem Rücktritt des Premiers 14 Tage lang keinen Regierungschef bestimmt. Paschinjan warnte die Republikaner, sollten sie von ihrer Mehrheit Gebrauch machen und einen Premier wählen, würden umgehend neue Proteste das Land lahmlegen.

Anfang Oktober hatte Paschinjan seinen Gegnern einen Vorgeschmack darauf gegeben: Nachdem er seinen Plan für Neuwahlen im Dezember verkündet hatte, versuchten die Republikaner gemeinsam mit anderen Parteien, das Gesetz über die Nationalversammlung zu ändern und damit eine Auflösung des Parlaments zu verhindern. Als Paschinjan die Armenier daraufhin per Facebook auf die Straße rief, versammelten sich innerhalb einer Stunde Zehntausende vor dem Parlament. Daraufhin gaben Vertreter mehrerer Parteien Versprechen ab, sich Neuwahlen nicht in den Weg zu stellen. In der Folge entließ Paschinjan sechs Minister, deren Parteien für die Satzungsänderung im Parlament gestimmt hatten.

Je eher Neuwahlen abgehalten werden, desto klarer dürfte sich die Unterstützung für den charismatischen 43-Jährigen auch in realen Mandaten niederschlagen. Umfragen zufolge schenken ihm derzeit bis zu 90 Prozent der Wahlberechtigten ihr Vertrauen. Er muss allerdings damit rechnen, dass seine Beliebtheit schwindet, wenn die Revolutionseuphorie verblasst und die Menschen konkrete Verbesserungen in ihren Lebensumständen erwarten.

Die Massenproteste im Frühjahr richteten sich gegen die Dauerherrschaft von Sersch Sargsjan und der Republikanischen Partei. Nachdem er nicht für eine weitere Amtszeit antreten durfte, hatte er sich entgegen früherer Versprechen von den Republikanern zum Premier wählen lassen. Eine Verfassungsänderung hatte das Amt zuvor mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, die teilweise die des Präsidenten noch übertrafen.

Anders als nach der Rosenrevolution im Nachbarland Georgien 2003 und anders als bei der Maidan-Revolution in der Ukraine hatte Paschinjan eine Konfrontation mit Moskau von Anfang an vermieden. Armenien ist im Konflikt mit Aserbaidschan um Berg Karabach und weitere besetzte Gebiete auf Russland als Schutzmacht angewiesen. Auch wirtschaftlich spielt Russland eine wichtige Rolle. Eine große armenische Diaspora gibt es sowohl in Russland als auch in den USA. Nach dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich vor über 100 Jahren hatte sich das Volk über die ganze Erde verstreut.

© SZ vom 18.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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