Armenien:Alle Macht dem Volk

Weil sich die Menschen über alle politischen Lager hinweg einig sind, gelingt es ihnen rasch, den bisherigen Herrscher Sersch Sargsjan zu stürzen. Der Neuanfang wird für das Kaukasusland jedoch schwierig werden. Insbesondere das Verhältnis zu Russland ist heikel.

Von Julian Hans

Das armenische Volk feiert seine Befreiung, aber kaum einer feiert mit. In weniger als zwei Wochen haben die Aktivisten des zivilen Ungehorsams und die friedlichen Massen die Macht von Sersch Sargsjan gebrochen, der seine Herrschaft auf ewig ausgelegt hatte. Aber in Europa nahm man kaum Notiz davon. Ganz anders als vor vier Jahren während des Maidan in Kiew, als jeder eine Meinung zur Ukraine hatte und alle zu Experten für Geopolitik wurden.

Gemeinsam ist den beiden Ereignissen, dass es jeweils ein gebrochenes Versprechen war, das den Aufstand auslöste: in der Ukraine die plötzliche Absage der lange beworbenen Assoziation mit der Europäischen Union. In Armenien die Ernennung Sargsjans zum Regierungschef, obwohl er vorher fest versprochen hatte, nach zwei Amtszeiten als Präsident die Macht abzugeben.

Noch ein drittes Beispiel gibt es in diesem Jahrzehnt dafür, wie ein Volk auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sich an der Nase herumgeführt fühlte und aufbegehrte: Als Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew 2011 in Moskau ihre Absicht erklärten, ein weiteres Mal die Ämter des Premiers und des Präsidenten zu tauschen. Anders als später in der Ukraine und jetzt in Armenien ist es der russischen Regierung gelungen, die darauf folgende Protestwelle zu unterdrücken. Gleichwohl wirkt sie bis heute nach in den innen- und außenpolitischen Manövern des Kreml, in denen die Angst vor Schwäche und Machtverlust ein Grundmotiv ist.

Den Menschen in allen drei Ländern war klar, dass sie nur eingeschränkte Grundrechte genießen. Aber als ihnen derart offen vor Augen geführt wurde, dass ihr Wille nichts zählt, ging dies über das Erträgliche hinaus. Ganz Armenien war zuletzt in einem Ruf vereint: "Sersch muss gehen!" Es gab keine politischen Richtungsstreits, kein Ringen um die Ausrichtung nach Russland oder Europa, keine Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Volksgruppen. Nur das Volk gegen die korrupte Elite. Das hat den Kampf erleichtert und den schnellen Sieg gebracht.

Das erschwert aber auch einen Neuanfang. Es gibt nur wenige Politiker, die sich nicht im alten System diskreditiert haben. Und inhaltlich reicht die Diskussion kaum tiefer als bis zu den Floskeln vom Ende der Korruption. Der Spielraum ist gering. In Eriwan sieht niemand eine Alternative zur Balance zwischen Russland und dem Westen. Sie ist schon in der armenischen Diaspora angelegt: Zu den drei Millionen Bürgern im Land kommen acht Millionen Nachfahren der Armenier, die vor 103 Jahren vor dem Genozid aus dem Osmanischen Reich fliehen mussten. Sie leben heute über die ganze Welt verstreut. Doch besonders ihre Zentren in den USA und in Russland haben wirtschaftlich und politisch großen Einfluss im Land. Keine Regierung kann es sich mit der einen oder anderen Seite verscherzen.

Sicherheitspolitisch ist nicht absehbar, wie sich Armenien aus der Abhängigkeit von Moskau lösen könnte. Russland rüstet den Erzfeind Aserbaidschan auf und nimmt zugleich mit einer Militärbasis in Armenien die Rolle der Schutzmacht ein, die dafür garantiert, dass Baku nicht angreift. Der Abtritt von Sersch Sargsjan bedeutet zunächst einmal nur ein Ende. Was danach kommt, ist unklar. Auf lange Sicht bedeutender ist, dass die Armenier in diesen Tagen die Erfahrung gemacht haben, dass die Macht tatsächlich vom Volk ausgeht. Das ist ein Anfang.

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