Süddeutsche Zeitung

Argentinien:Vermisster Aktivist offenbar tot

Der Fall des 28-jährigen Santiago Maldonado hält das Land seit zweieinhalb Monaten in Atem und war das bestimmende Thema im Wahlkampf. Nach einem Leichenfund stellen die Parteien ihre Kampagnen ein.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

In Argentinien finden am Sonntag wichtige Parlamentswahlen statt. Für die ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner geht es um einen Posten als Senatorin, also um ihr politisches Comeback. Für ihren Nachfolger Mauricio Macri geht es darum, genau das zu verhindern. Beide Seiten hätten gute Gründe, noch einmal alles zu mobilisieren für eine große Abschlusskundgebung. Sie sind aber der Meinung, dass sie noch bessere Gründe haben, es nicht zu tun. Im Fluss Río Chubut in Patagonien ist eine Leiche gefunden worden.

Vieles deutet darauf hin, dass es sich um den seit Anfang August vermissten Aktivisten Santiago Maldonado, 28, handelt. Zunächst gab es dafür aber noch keine offizielle Bestätigung. Die Gerüchte waren schneller als der Obduktionsbericht, wie so oft in dem Land, das sich mit beispielloser Leidenschaft seinen Verschwörungstheorien hingibt. Der Fall Maldonado hält Argentinien seit zweieinhalb Monaten in Atem, er wurde von allen Seiten politisch instrumentalisiert und war das bestimmende Thema im Wahlkampf. Dass jetzt die Abschlusskundgebungen abgesagt wurden, widerspricht dem nicht. Im Gegenteil. Das Gebot der Stunde, um unentschlossene Wähler zu überzeugen, lautet offenbar: Pietät vortäuschen.

Das Profil des vermissten Santiago Maldonado schmückt T-Shirts wie Che Guevara

Maldonado wurde zuletzt lebendig gesehen, als er eine indigene Mapuche-Gemeinschaft in ihrem Konflikt mit der italienischen Modefirma Benetton unterstützte. Benetton ist einer der größten Landeigner Argentiniens, die Mapuche fordern die Rückgabe ihrer ursprünglichen Gebiete in Patagonien. Der Chubut ist für sie ein heiliger Fluss. Am 1. August löste die Polizei ihren Widerstand gewaltsam auf. Viele Argentinier, vor allem die Anhänger Kirchners, glauben, dass Maldonado bei dem Einsatz getötet wurde, dass die Polizei seinen Körper verschwinden ließ und die Regierung Macri alles vertuscht. Es hatte zumindest nie den Anschein, als ob es die Behörden eilig hätten, den Fall aufzuklären. Und mit jedem Tag der Ungewissheit wuchsen die Theorien. Hunderttausende waren auf den Straßen und riefen: "Wo ist Santiago Maldonado?" Macri geriet ernsthaft in Bedrängnis. Die Causa ist auch das Symptom einer chronischen Krankheit: Das unerschütterliche Misstrauen der Argentinier gegenüber ihrem Staat.

Seit Mittwoch gibt es immerhin eine Leiche, aber das Rätsel ist deshalb noch lange nicht gelöst. Jetzt dreht sich alles um die Frage, wie sie in den eiskalten Fluss kam. Der Fundort liegt nur ein paar Hundert Meter vom Einsatzort des 1. Augusts entfernt. Taucher hatten diesen Flussabschnitt zuvor mehrmals ergebnislos abgesucht. Ein Bruder Maldonados sagte öffentlich, er gehe davon aus, dass die Leiche dort "platziert" wurde. Die Familie weigert sich bislang auch, die Identität des Toten zu bestätigen. Bilder des entstellten Gesichts kursieren aber bereits unter Journalisten. Und die lassen offenbar keinen Zweifel: Er ist es! Alle Argentinier wissen, wie Maldonado aussieht, sein Profil schmückt inzwischen T-Shirts wie Che Guevara. Eine wissenschaftliche Identifizierung könne sich wegen des Zustandes des Körpers aber noch mehrere Wochen hinziehen, wird ein Forensiker von der Zeitung Clarín zitiert. Mindestens so lange wird die Schlacht um die Deutung der Wahrheit fortgesetzt.

Santiago Maldonado war offenbar Nichtschwimmer. Ein naheliegender Gedanke ist, dass er auf der Flucht vor der Polizei ertrank. Daran glauben aber die wenigsten. Es wäre auch keine gute Verschwörungsgeschichte.

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Quelle:
SZ vom 20.10.2017
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