Will man herausfinden, wie es um Argentinien unter dem rechtslibertären Präsidenten Javier Milei steht, wie die Menschen in dem südamerikanischen Land leben und was sie denken, dann gibt es grundsätzlich zwei Wege. Einmal sind da die offiziellen Indikatoren. Die Inflation, zum Beispiel, aber auch die Armutsquote. Und da ist das Bild zunächst einmal sehr positiv: Die Teuerungsrate sinkt. Und auch bei der Zahl der Bedürftigen und Notleidenden im Land gibt es rein rechnerisch Fortschritte, massive sogar: Galten zu Beginn von Javier Mileis Amtszeit noch mehr als die Hälfte der Argentinier als arm, sind es nun, rund eineinhalb Jahre später, nur noch gut ein Drittel, 38 Prozent genau. Ein Rückgang um fast 15 Prozentpunkte.
Als die nationale Statistikbehörde die neuesten Zahlen Anfang dieser Woche bekannt gab, brach auch prompt Jubel in der Regierung aus. „Schaut euch das mal an, ihr Primaten!“, schrieb Präsident Javier Milei auf X. Darunter postete er eine offizielle Bekanntmachung der Regierung, die den Rückgang der Armutsquote feierte, ebenso wie die positiven Ergebnisse der „tiefgreifenden Wirtschaftsreformen des Präsidenten“.
Der hohe Wert des „blauen Dollars“ spricht Bände
Allerdings gibt es auch Zweifel und Kritik. So ist die Inflation in Bezug auf die letzten 12 Monate zwar rückläufig, trotzdem aber immer noch zweistellig, fast 67 Prozent laut nationaler Statistikbehörde. Und war Argentinien zu Beginn von Mileis Amtszeit im Dezember 2023 noch eines der günstigsten Länder in Lateinamerika, so sind die Preise heute die höchsten der gesamten Region. 200 Gramm Butter kostet in einem Supermarkt in Buenos Aires derzeit umgerechnet drei Euro. Für einen Liter frische Milch zahlt man immerhin noch 1,40 Euro, ebenso wie für eine 500-Gramm-Packung Nudeln. Es sind Preise fast wie in Deutschland, bei Löhnen, die im Schnitt meist kaum höher sind als 1000 Euro pro Monat, wenn überhaupt.

Die Inflations- und Armutszahlen, glauben Experten, würden darum die Wirklichkeit auch nicht widerspiegeln: Wichtigen Faktoren hätte man zu wenig Gewicht eingeräumt, den Strom- und Gaspreisen etwa, die sich in eineinhalb Jahren verdoppelt und verdreifacht haben, weil die Regierung Subventionen strich. Die Mieten in der Hauptstadt Buenos Aires sind stark gestiegen, der Konsum ist zugleich im ganzen Land eingebrochen, die Industrie geschrumpft.
Spätestens hier ist man beim zweiten, eher informellen Indikator, an dem sich das Leben und die Stimmung im Land messen lässt: dem Dollar-Wechselkurs. Offiziell liegt er bei 1054,50 argentinischen Peso je US-Dollar. Weil es aber strenge Devisenbeschränkungen gibt, blüht der Schwarzmarkt. Dort ist der Preis des dólar blue zuletzt wieder stark gestiegen: Er liegt nun fast ein Viertel über dem offiziellen Kurs. Und das wiederum ist nicht nur ein Zeichen dafür, dass die Preise im Land in Zukunft wohl noch weiter steigen oder Spekulanten am Kurs drehen. Viele Argentinier benutzen den dólar blue auch als eine Art Thermometer, um abzulesen, wie es wirklich steht: je höher der informelle Dollarkurs, desto geringer meist das Vertrauen in die Regierung und deren wirtschaftspolitischen Kurs.

Argentinien:Tango und Cash
Die Argentinier haben wenig Vertrauen in ihren Peso. Deshalb bunkern sie wie verrückt Dollars - unter der Matratze, in Blumentöpfen oder im Grill. Was das über die Seele des Landes verrät.
Für den ausgebildeten Ökonomen Javier Milei, den viele wegen seines mutmaßlichen Fachwissens wählten, ist das ein Problem. Dabei hatte er beim Amtsantritt vor harten Zeiten gewarnt. Der Staat und seine Ausgaben seien aus dem Ruder gelaufen, sagte Milei, weshalb seine Regierung ein Sparprogramm auflegen werde, „wie es die Welt noch nicht gesehen hat“. Der Peso wurde abgewertet, Subventionen gekürzt, Behörden geschlossen und alle öffentlichen Bauaufträge auf Eis gelegt. Aber all die Mühen würden sich lohnen, versprach Milei: „Es wird ein Licht am Ende des Weges geben.“ Bisher warten viele Argentinier vergebens.

Während Milei lange große Beliebtheit genoss, bröckelt nun die Zustimmung. In mehreren Umfragen bewertet die Mehrzahl der Befragten seine Regierung als negativ. Und bei den Studien von Atlas Intel, einem Institut mit Sitz in Brasilien, das als eines der wenigen den Wahlsieg Mileis 2023 von Anfang an richtig vorhersagte, sackte das positive Bild des Präsidenten besonders stark ab: von 54 Prozent im vergangenen Dezember auf 45 Prozent im März.
Schlagstöcke gegen Krückstöcke – das kommt nicht gut an
Neben der wirtschaftlichen Lage spielen da vermutlich auch andere Faktoren eine Rolle. Der Skandal um eine Kryptowährung zum Beispiel, die Milei im Netz bewarb und mit der einige wenige sehr schnell sehr viel Geld machten, während Tausende ihre Ersparnisse verloren. Hinzu kommt die Ernennung höchst umstrittener Richter per Dekret, ebenso das harte Vorgehen gegen Demonstranten, darunter viele alte Menschen.
Die Mindestrente liegt derzeit bei 355 000 Peso, was schon eine Erhöhung beinhaltet und einen monatlichen Bonus – umgerechnet aber kaum mehr als 300 Euro entspricht. In Buenos Aires protestieren nun fast wöchentlich älterer Argentinier, die nicht mehr wissen, wie sie über die Runden kommen sollen.
Javier Milei will um jeden Preis eine Rentenerhöhung verhindern. Das würde die Staatskasse belasten und das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts gefährden. Ein Dialog mit den Demonstranten findet darum nicht statt, stattdessen schickt die Regierung die Polizei. Großmütter werden von Beamten in Kampfmontur zu Boden geschubst. Grauhaarigen Männern wird Tränengas ins Gesicht gesprüht. Schlagstöcke gegen Krückstöcke: Im familienbewussten Argentinien kommt das nicht gut an.
Javier Milei versucht nun gegenzusteuern: Mitte der Woche ist er in die USA gereist, in der Hoffnung, endlich eine feste Zusage für einen neuen Milliardenkredit beim Internationalen Währungsfonds zu bekommen. Das hat nicht geklappt, ebenso wenig wie ein persönliches Treffen mit US-Präsident Donald Trump. Der nannte ihn in der Vergangenheit einen „great gentleman“, der einen „hervorragenden Job“ mache. Worte, die Javier Milei in seiner Heimat immer seltener zu hören bekommt.