Vor ein paar Tagen machte ein Video im argentinischen und brasilianischen Internet die Runde. Es zeigte Fußballfans, die sich prügelten, - die einen im gelben Trikot der Nationalmannschaft von Brasilien, die anderen im blau-weißen Jersey des Teams aus Argentinien. Nun muss man sagen, dass überbordender Fußballeifer nichts Ungewöhnliches ist in Südamerika, und leider kippt die Begeisterung auch manchmal. Fäuste fliegen, sogar Steine. Doch die Fan-Schlägerei auf dem Video war anders, sie fand nicht in Buenos Aires oder Brasília statt, sondern in Kerala.
Der südindische Bundesstaat liegt am Arabischen Meer, mehr als 10 000 Kilometer entfernt von den Traumstränden Copacabanas oder den beigen Fluten des Rio de la Plata. Dennoch schlägt in Kerala das Herz stark für die Mannschaften Brasiliens und Argentiniens. Es gibt Fanseiten mit mehreren Hunderttausend Mitgliedern und sogar einen indischen WM-Song für das brasilianische Team. Keralas Argentinien-Anhänger streichen ihre Häuser weiß-blau oder pflastern die Straßen mit riesigen Pappaufstellern von Lionel Messi.
All das ist kurios, dazu kommt aber noch, dass Kerala mit seiner Begeisterung nicht allein ist. Auch am Golf von Bengalen, in Bangladesch, fiebert man mit den Teams aus Südamerika, und zwar so sehr, dass es immer wieder Verletzte und Tote bei waghalsigen Fanaktionen oder wilden Prügeleien gibt. Behörden erlassen Verbote - vergeblich. Die Liebe scheint von Jahr zu Jahr zu wachsen. Mehrere Tausend Menschen feierten in Dhaka diese Woche den Einzug Argentiniens ins Achtelfinale.
In Indien dominiert ein anderer Rasensport: Cricket
Dass sich die Menschen in Südasien so sehr für südamerikanische Teams begeistern, liegt zum einen daran, dass ihre Länder selbst kaum Erfolg im internationalen Fußball haben. Cricket ist Nationalsport Nummer eins, Kicken eher eine Randerscheinung. Als die Fernsehsender in den 70er-Jahren damit begannen, die Fußballweltmeisterschaften zu übertragen, sahen viele dennoch zu. Argentinien holte Titel, 1978 den ersten und 1986 noch einen. Damals schoss Diego Maradona im Viertelfinale England aus dem Turnier, ein Sieg, der weit über den Rasen hinaus Strahlkraft besaß, weil er vier Jahre nach dem Krieg der beiden Länder um die Falklandinseln kam und im globalen Süden auch als Ermächtigung gegenüber der einstigen Weltmacht Großbritannien gefeiert wurde. Maradona wurde zum Helden im Kampf gegen den Kolonialismus. Auch wenn Messi und brasilianische Spieler heute fast ebenso berühmt sind, wird der Argentinier mit der "Hand Gottes" immer noch verehrt. Es gibt Statuen, und in Kerala rief das Sportministerium sogar zwei Tage Trauer aus, als Maradona 2020 starb.
So viel Liebe erwärmt auch Tausende Kilometer weit entfernt die Herzen. Eine Petition fordert vom argentinischen Fußballbund, die Fans in Südasien offiziell anzuerkennen. Das Außenministerium in Buenos Aires plant angeblich sogar, die Botschaft in Dhaka wieder zu eröffnen, die 1977 von der rechten argentinischen Militärdiktatur geschlossen worden war. Anhänger der Albiceleste halten in Katar dazu auch die grün-rote Fahne Bangladeschs in die Kameras. Ein Beweis für die Macht des Fußballs, aber auch eine Art später Genugtuung, waren es doch vor allem Arbeiter aus Südasien, die die Stadien gebaut haben, oft unter unmenschlichen Bedingungen und ohne dass ihre Teams an dem Turnier teilnehmen.