Archivierung von staatlichen Dokumenten:Verfassungsschützer löschen ihre Geschichte

Was erfahren unsere Urenkel über Geheimdienste? Dem Verfassungsschutz wird vorgeworfen, alte Akten unerlaubt zu schreddern und damit das Archivgesetz zu verletzen. Die Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungen ein - doch damit liegt sie falsch.

Von Rudolf Neumaier

Was die Urenkel und spätere Generationen einst über das deutsche Gemeinwesen des Jahres 2013 erfahren, ist ziemlich genau geregelt. Dafür ist im Januar 1988 das Bundesarchivgesetz erlassen worden, und in den Bundesländern gibt es die Landesarchivgesetze. Schließlich will das deutsche Gemeinwesen, offen und demokratisch wie es ist, den Nachfahren nichts verheimlichen. Oder doch?

Der Verband deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA), der die Archivbestimmungen hütet wie Naturschutzverbände die Natur, hat vor gut einem Jahr Anzeige gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz erstattet. Diese Behörde hatte nach Auffassung des VdA gegen Gesetze verstoßen. Sie habe Akten vernichtet, die sie dem Bundesarchiv in Koblenz hätte anbieten müssen.

Es handelte sich um Unterlagen, die mit Ermittlungen zur Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund zu tun hatten. Die Archivare glaubten, dass sich die Verfassungsschützer durch die Aktenvernichtung strafbar gemacht hätten - Verwahrungsbruch heißt das Delikt, das sie insinuierten. Es taucht nicht im Archivgesetz auf, wohl aber im Strafgesetzbuch: Wer als Amtsperson unrechtmäßig wichtige Schriftstücke zerstört, heißt es hier sinngemäß, der muss mit bis zu fünf Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe rechnen.

Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelte in Person des Oberstaatsanwaltes Ulf Willuhn, Leiter der Abteilung für politische Strafsachen. Bemerkenswert ist die Stellungnahme, mit der Willuhn die Ermittlungen einstellte. Mit keiner Silbe ist in seinem recht ausführlichen Einstellungsbescheid das Archivgesetz erwähnt. Wer bei Willuhn nachfragt, dem erteilt er bereitwillig Auskunft. Das Bundesarchivgesetz habe keine strafrechtliche Relevanz, sagt er, daher sei es für ihn nicht von Belang gewesen. Und außerdem: "Mit den Erfordernissen der geheimdienstlichen Tätigkeiten", sagt Willuhn, sei das Archivgesetz wohl kaum vereinbar, wenn es Bundesbehörden verpflichte, ihre Unterlagen dem Bundesarchiv in Koblenz anzubieten. "Das historische Interesse tritt hier zurück hinter die Praxiswirklichkeit."

Der Staatsanwalt liegt falsch

Das hieße, dass Schlapphüte selbst bestimmen können, ob und wann sie der Nachwelt Dokumente überliefern. Doch entweder generiert die Staatsanwaltschaft Köln nun ein eigenes Recht, oder ihr ist eine entscheidende Stelle im Archivgesetz entgangen: Derzufolge haben alle Behörden des Bundes "alle Unterlagen, die sie zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben einschließlich der Wahrung der Sicherheit der Bundesrepublik" nicht mehr benötigen, dem Archiv anzubieten. Das Bundesarchivgesetz regelt also explizit, dass für Verfassungsschützer, Bundesnachrichtendienst und Bundeswehr keine Ausnahmen gelten. Der VdA hat eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Oberstaatsanwalt eingelegt. Der muss sich nun nachträglich mit dem Archivgesetz vertraut machen.

Mit seiner Einschätzung zum "historischen Interesse" und zur "Praxiswirklichkeit" liegt der Jurist ebenfalls falsch: Ein Sprecher des Bundesamtes für Verfassungsschutz betont, seine Behörde arbeite mit dem Bundesarchiv intensiv zusammen und habe nichts zu verbergen. Ein Experte des Bundesarchivs sei regelmäßig im Haus, um zu prüfen, welche Verfassungsschutzakten vernichtet werden können und welche zu konservieren sind. Die Verfassungsschützer selbst seien im Umgang mit Akten von potenziell zeithistorischer Bedeutung geschult.

Michael Hollmann, der Präsident des Bundesarchivs, gibt sich inzwischen etwas skeptisch: Bevor die Aktenvernichtung im Bundesamt für Verfassungsschutz ruchbar wurde, sagt er, "hatte ich keinen Anlass an der Erfüllung der Angebotspflicht zu zweifeln". Ob er den Bescheid der Kölner Justiz befremdlich findet? "Einen Hinweis auf das Archivgesetz hätte ich darin schon gerne gelesen. Auch darauf, dass die Anbietungspflicht aller Behörden eine wichtige Norm ist."

Der Fauxpas der Staatsanwaltschaft Köln dürfte für alle Zeiten archiviert sein.

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