Archäologie:Sprechende Steine

Ein Ziegel aus dem Turm zu Babel verrät sein Geheimnis.

Von Lothar Müller

Im Archiv des Bibelmuseums der Universität Münster liegt ein alter Lehmziegel. Er entstammt den Fundamenten des antiken Turms, die der deutsche Architekt und Bauforscher Robert Koldewey 1913 bei seinen Grabungen in Babylon freigelegt hat. Damit war ein archäologischer Beleg für die Erzählung über den Turmbau zu Babel im Ersten Buch Moses des Alten Testaments gefunden.

Münster verfügt auch über ein archäologisches Museum. Dass dieser Stein aber nicht dort, sondern im Bibelmuseum neben Papyrus, Papier und Pergament aufbewahrt wird, verdankt er seiner Beziehung zum Text der Genesis. Durch eine computertomografische Untersuchung ist dieser Stein jetzt noch näher an die biblische Erzählung herangerückt. Nicht an die Sprachverwirrung, mit der Gott die Menschen bestraft, weil sie es wagten, ein Gebäude zu errichten, dessen Spitze bis in den Himmel ragt. Sondern an die Zeilen, die vom Baumaterial berichten: "Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! - und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel." Ein anderes Wort für Erdharz ist Bitumen oder auch Asphalt. Dass die schwarze Masse, die dem hellen, etwa acht Kilo schweren Lehmziegel des Bibelmuseums an einer Seite anhaftet, tatsächlich Bitumen ist, der wie ein Klebstoff verwandt wurde, haben die großformatigen CT-Untersuchungen nun erwiesen.

Saxa loquuntur, die Steine sprechen, war stets eine Lieblingsformel der Archäologen. Die Steine sollen von der Struktur der Bauwerke sprechen, deren Relikte sie sind. Und sie sollen in Dialog treten mit schriftlichen Quellen, in denen die Bauwerke erwähnt werden. Das Zusammenspiel von Philologie und Archäologie ist vor allem dann naheliegend, wenn die Steine wie Papyrusfragmente selber Schriftträger sind. Der Name "Nebukadnezar" ist etwa dem Lehmziegel in Münster aufgestempelt. Nebukadnezar II. war der Bauherr, der im sechsten Jahrhundert vor Christus die von seinem Vater begonnene Wiederrichtung des lange zuvor schon einmal gebauten und dann zerstörten Turms vollenden ließ.

Aus den Juden, die nach der Zerstörung Jerusalems in babylonischer Gefangenschaft lebten und die Großbaustelle vor Augen hatten, gingen die Autoren hervor, die im Text der Genesis das Ereignis des Turmbaus auf ihren Gott und in die Kette der menschlichen Verfehlungen seit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies einfügten.

Steine sprechen nicht nur durch Inschriften, sondern auch durch ihre physischen Eigenschaften. Längst lässt die Archäologie mit immer avancierteren Technologien die materielle Struktur organischer und anorganischer Relikte durchleuchten. Es war deshalb kein Zufall, dass erst ein Archäologe seine schriftnahen Kollegen im Bibelmuseum auf die Idee brachte, ihren Stein den Radiologen von der medizinischen Fakultät ihrer Universität vorzulegen. Für sie führte die Inschrift "Nebukadnezar" nicht in die Bibel, in das Buch der Könige hinein, wo der babylonische Herrscher als Zerstörer des Tempels der Juden auftaucht, sondern ins Innere des Steins. Ihre Bilder machten nachvollziehbar, wie der Stempel mit dem Namen in den feuchten Lehm gedrückt wurde.

Dieser Text erschien erstmals im August 2018. Am 15. Juni 2021 öffnet das Bibelmuseum der Universität Münster wieder seine Pforten.

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