Arbeitsrecht:Richter gegen Richter

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Zwei Wochen nach der Chefarzt-Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wird klar, was für eine Zäsur das Urteil ist.

Von Detlef Esslinger, Wolfgang Janisch, München/Karlsruhe

Kläger suchen in der Regel einfach nur ihr Recht. Manchmal ist ihr Fall aber so, dass sie eine Berühmtheit erlangen, die sie nie gesucht haben - zumindest nicht in ihrer Eigenschaft als Kläger.

Vor zwei Wochen gab das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt jenem Chefarzt recht, mit dem sich in den vergangenen zehn Jahren fünf Gerichte insgesamt sieben Mal beschäftigt hatten. Der Mann wollte nicht hinnehmen, dass er von seinem Arbeitgeber, einem katholischen Krankenhaus in Düsseldorf, nur deshalb gekündigt wurde, weil er zum zweiten Mal geheiratet hatte. Er dürfte Rechtsgeschichte machen - als der Kläger, der die Stellung der Kirchen hierzulande geschwächt hat. Und zudem als derjenige, der drastisch gezeigt hat, dass die Statik des deutschen Gerichtswesens eine starke europäische Säule hat.

Das Grundgesetz billigt jeder Religionsgesellschaft zu, "ihre Angelegenheiten selbständig" zu verwalten. Wegen dieser drei Wörter aus der Weimarer Verfassung, die das Grundgesetz in Artikel 140 übernommen hat, räumte auch das Bundesverfassungsgericht im Oktober 2014 den Kirchen noch einmal die größtmögliche Autonomie ein: Sie durften weiter nach eigenem Gutdünken bestimmen, welche Loyalitätsanforderungen sie an ihre Mitarbeiter stellen. Karlsruhe war die Selbstbestimmung der Kirchen traditionell wichtiger als die Schutzrechte von deren Arbeitnehmern. Nachdem der Zweite Senat des BAG dem katholischen Chefarzt im Jahr 2011 unter anderem mit der Begründung recht gab, dass die Kirche anderen, nicht-katholischen Kollegen die Wiederheirat erlaubt hatte, fand Karlsruhe hingegen: Die Kirche müsse selber entscheiden dürfen, wo sie großmütig sei und wo nicht.

Vor zwei Wochen: das Bundesarbeitsgericht zu Beginn der Sitzung. (Foto: Michael Reichel/dpa)

Indes, die Richter am Bundesarbeitsgericht waren offenkundig entschlossen, dem Chefarzt unbedingt und erneut recht zu geben. Also riefen sie 2016 den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg an: ob es eigentlich mit europäischem Recht vereinbar sei, dass die Kirche Unterschiede zwischen katholischen und nicht-katholischen Mitarbeitern mache? Der EuGH entschied, es komme auf die Art der Tätigkeit eines Mitarbeiters an, wie streng die Kirche sein dürfe. Es hänge davon ab, ob die Religion "eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung darstellt". Worauf das BAG vor zwei Wochen die Gelegenheit ergriff und verkündete, für einen Chefarzt gebe es all diese Anforderungen nicht. Er hätte wohl zum Beispiel für Abtreibungen werben müssen, um mit Recht entlassen zu werden.

Ein früherer Richter stellt einen "Autoritätsverlust" des Bundesverfassungsgerichts fest

Unabhängig davon, welchem Gericht man zuneigt: Dies war ein spektakulärer Vorgang. Ingrid Schmidt, die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, hat kein Interesse daran, die Karlsruher Richter noch stärker zu provozieren, als es die Richterkollegen aus ihrem Haus ohnehin getan haben. Also formuliert sie zurückhaltend auf die Frage, wie man in Karlsruhe wohl reagieren würde, brächte die Kirche den Fall erneut dort hin. "Ich gehe davon aus, dass die Verfassungsrichter unsere Perspektive auch im Blick haben würden", sagt sie.

Christoph Schmitz-Scholemann hingegen braucht keine Rücksichten zu nehmen. Er war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2014 Richter am BAG, gehörte dort dem Zweiten Senat an und war 2011 in dem Chefarzt-Verfahren der Berichterstatter. Er sagt: "Das Urteil bedeutet, dass ein nationales Fachgericht mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts drehen kann."

Und zwar, weil das EU-Recht nun mal Vorrang vor den nationalen Vorschriften hat. Hier wird in seltener Deutlichkeit eine tektonische Verschiebung sichtbar: Europäisches Recht schlägt Grundgesetz. "Dies ändert die Blickrichtung jedes Richters: von Karlsruhe nach Luxemburg", sagt Schmitz-Scholemann, "für das Bundesverfassungsgericht bedeutet dies einen Autoritätsverlust, der nicht von schlechten Eltern ist."

Was könnte das Verfassungsgericht nun tun? Theoretisch könnte es zwar darüber nachdenken, die Autonomie der Kirchen in die "Verfassungsidentität" des Grundgesetzes hineinzuinterpretieren. Nur so könnte es das eigentlich vorrangige Europarecht doch noch überspielen und das allerletzte Wort für sich reklamieren. Doch das wäre eine Nuklearoption: Dass Karlsruhe ausgerechnet wegen der etwas aus der Zeit gefallenen Arbeitgeber-Privilegien der Kirchen den Konflikt mit dem obersten EU-Gericht sucht, wäre erstaunlich und zudem schwer zu begründen. Im vergangenen Herbst veröffentlichte das BAG die schriftliche Begründung eines Urteils, mit dem es einer Klägerin 4000 Euro Entschädigung zusprach. Sie hatte sich auf eine Referentenstelle bei der Evangelischen Kirche beworben; weil sie aber konfessionslos ist, war sie nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräche eingeladen worden.

Der Spruch aus Erfurt macht die Kirchen noch nicht zu ganz normalen Arbeitgebern

In der Begründung knüpfte das BAG konfessionsgebundene Stellenausschreibungen an strenge Voraussetzungen. Ungewöhnlich deutlich wiesen die Richter darauf hin, dass aus ihrer Sicht keinerlei Anlass für ein erneutes Einschreiten der Verfassungsrichter bestehe. Schon deshalb nicht, weil auch das europäische Recht die Autonomie der Kirchen achte. "Ich würde nicht dazu raten, mit diesem Fall noch mal nach Karlsruhe zu gehen", sagt Professor Hermann Reichold, der an der Uni Tübingen die Forschungsstelle für kirchliches Arbeitsrecht leitet. Hinzu kommt, dass die Deutsche Bischofskonferenz vor vier Jahren ihre Grundordnung der Arbeitsverhältnisse liberalisierte. Folglich teilte das Erzbistum Köln, das im Fall des Chefarztes zuständig ist, nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vor zwei Wochen mit, dass die Kündigung "nach heute geltendem Kirchenrecht anders zu beurteilen" wäre. Es klingt nicht danach, als ob die Kirche die Sache weiter austragen wolle.

Allerdings sind die Kirchen aber auch nach dem erfolgreichen Coup des BAG nicht zu einem ganz normalen Arbeitgeber geworden. Erstens gilt bei ihnen nach wie vor der "Dritte Weg" des Arbeitsrechts: Kommissionen, in denen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleich stark sind, regeln die Arbeitsbedingungen. Können sie sich nicht einigen, ist eine Schlichtung bindend; Streiks sind ausgeschlossen.

Und zweitens hat das BAG noch längst nicht alle Fragen beantwortet. Das gilt vor allem für Stellenausschreibungen. Dort dürfte der Spielraum größer sein als bei der Kündigung. Eine Konfessionsbindung werden die Kirchen zwar nach Einschätzung des Arbeitsrechtlers Reichold für die allermeisten Stellen nicht mehr fordern können - hier habe der EuGH im April 2017 strenge Vorgaben gemacht, als er sich mit der Frau befasste, die bei der Evangelischen Kirche als Referentin unerwünscht war. Aber es dürfte nach wie vor möglich sein, etwa von Erzieherinnen oder Religionspädagogen eine "Beschäftigung mit Glauben, Religion und Spiritualität" zu erwarten, oder einen christlich-kulturellen Hintergrund, sagt Reichold. Da sei nun Kreativität gefragt. "Die Kirchen werden sich Mühe geben müssen."

© SZ vom 05.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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