Arbeitsmigration in Europa:Angst vor den Schmarotzern

Nicht nur die Schweizer, auch viele Europäer sehen ihre Sozialstaaten bedroht. So wächst der Wohlfahrts-Chauvinismus: Sozialstaat ja, aber bitte nur für uns. Nationalistische Parteien in ganz Europa haben gelernt, das auszunutzen.

Von Steffen Mau

Steffen Mau, 45, ist Professor für politische Soziologie an der Universität Bremen und erforscht das Verhältnis von Sozialpolitik und Migration.

Europa hat ein neues Megathema: Wie umgehen mit den Arbeitsmigranten auf dem Kontinent? Die Schweiz hat gerade mit knapper Mehrheit dafür gestimmt, die Zahl der Ausländer, die in ihrem Land arbeiten, zu begrenzen. Und seit die Bulgaren und Rumänen mit Beginn des Jahres 2014 die volle Freizügigkeit erlangt haben, kocht das Thema des Sozialleistungstourismus auch in der Europäischen Union hoch.

Die im Artikel 45 des EU-Vertrags festgeschriebene Freizügigkeit, von nationalen wie europäischen Politikern lange Zeit als eine der wichtigsten Errungenschaften Europas gepriesen, wird offensichtlich zum Problem. Zwar ist eine direkte Einwanderung in den Sozialstaat nicht ohne Weiteres möglich, aber dennoch kann man den Eindruck gewinnen, nun stünden die Tore zu den Sozialleistungsparadiesen Europas weit offen.

Die Entscheidung in der Schweiz, die Debatte in der EU stehen für ein Syndrom: den grassierenden Wohlfahrtschauvinismus. Der etwas sperrige Begriff steht für die Tendenz, den Zugang zu sozialstaatlicher Solidarität und deren Reichweite abhängig von Volk und Nationalität zu machen. Sozialstaat ja - aber er soll keine universalistische und einbeziehende Unternehmung sein, sondern ein Schutzraum um das nationale Wir.

Vermengt werden in diesem Zusammenhang gern zwei Prinzipien: das der Zugehörigkeit und das der Leistungsbereitschaft. Es ist ein Gemeinplatz, dass Menschen, seien sie Steuer- oder Beitragszahler, ungern sehen, wie andere es sich auf ihre Kosten bequem machen. Sozialschmarotzertum soll ausgeschlossen werden. Je fremder diese vermeintlichen Trittbrettfahrer sind (oder wahrgenommen werden), desto stärker sind die Vorbehalte.

Wer darf dazugehören und unter welchen Bedingungen?

Über Mitnahmeeffekte und falsche Anreize wird diskutiert, solange es den Sozialstaat gibt. Nun aber öffnet sich die Flanke für einen neuen Migrationsdiskurs. In vielen Ländern Europas gibt es eine Verschiebung des sozialen Konflikts, den der Sozialstaat weitgehend befriedete. Ihm gelang es im 20. Jahrhundert, den Gegensatz zwischen oben und unten zu begrenzen und zu entschärfen. Nun geht es um Offenheit und Schließung, drinnen und draußen.

Wer darf dazugehören und unter welchen Bedingungen? Wer darf dem Gemeinwesen beitreten und auf Unterstützung hoffen? Dieser Konflikt ist erst unter den Bedingungen forcierter Globalisierung und Europäisierung entstanden, als Reaktion auf Verunsicherung, Wettbewerb, Erfahrungen der Entgrenzung. Ethnonationale Abgrenzungssehnsüchte treten dann vermehrt auf, wenn Bedrohungen wahrgenommen werden, seien sie real oder eingebildet. Ablehnung, Abwehr und Ausschluss sind ihre unmittelbaren Folgen.

Dies haben rechtspopulistische und nationalistische Parteien erkannt und genutzt. Noch in den 1980er-Jahren konnten sie selten etwas mit dem Sozialstaat anfangen, sie positionierten sich sogar vielfach antietatistisch und in Abgrenzung von den staatstragenden Parteien. Nun haben sie sich auf die Seite seiner Befürworter geschlagen. Der Rechtspopulismus hat seine neoliberale Phase hinter sich gelassen und gibt sich betont sozialdemokratisch - eben in der nationalistischen Variante. Nicht selten paaren sich traditionell linke Forderungen wie Steuererhöhungen für Vermögende, die Verstaatlichung zentraler Industrien, staatliches Engagement für Vollbeschäftigung oder die Betonung sozialer Gerechtigkeit mit klassischen rechten Positionen wie der Forderung nach einem Zuwanderungsstopp, der Rückkehr zu nationalen Werten, Ablehnung von Multikulturalismus und Intoleranz gegenüber anderen Religionen und Lebensweisen.

Nationalisten nähern sich dem Sozialstaat an

Populistische Parteien wie die Schweizerische Volkspartei oder die Wahren Finnen, die Schwedendemokraten, die Freiheitliche Partei Österreichs oder der Front National in Frankreich und Teile der Alternative für Deutschland, spielen - so unterschiedlich diese Parteien sonst sind - mit vorhandenen Ängsten und Ressentiments, sei es bei der Forderung, Zuwanderung zu begrenzen, beim Euroskeptizismus oder beim Hochhalten der nationalen Kultur. Für viele von ihnen ist die Sozialpolitik zu einem wichtigen Feld der Positionierung geworden. Sie treten als Verteidiger eines Sozialstaates auf, der die Vorrechte der "Einheimischen" zu verteidigen weiß, der Neuankömmlinge auf bescheidenere und mitunter disziplinierende Leistungen verweist, der Missbrauch und Mitnahmeeffekte konsequent bestraft.

Die Forderung nach strengen Restriktionen beim Zugang zum Sozialstaat kommt im Gleichschritt mit der Gegnerschaft bei der Zuwanderung ganz allgemein. Die nationale und ethnische Reinterpretation des Sozialstaates macht es möglich. "Sozialstaat statt Zuwanderung" hieß es vor einigen Jahren bei der österreichischen FPÖ. Der Front National sieht sich als weder links noch rechts, sondern als französisch und macht die Einwanderung für die Krise des Sozialstaates verantwortlich.

Anpassungswillige Migranten dürfen kommen

Herr Lucke von der AfD will sich das Nationalistische nicht zu eigen machen, wird aber dennoch zum Warner vor ungebremster Migration in das Rundum-sorglos-Paket des deutschen Sozialstaates. Es sei, so seine interessante Volte, menschenunwürdig, Zuwanderer in der Abhängigkeit von staatlichen Almosen zu halten. Gute und anpassungswillige Migranten dürften aber kommen.

Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass die populären Aufwallungen gegen die Einbeziehung von Zuwanderern in die Sozialleistungssysteme nicht unmittelbar im Zusammenhang mit den möglichen Problemen stehen. Es ist nicht die Arbeitslosigkeit unter den EU-Ausländern oder gar in der Schweiz, es ist nicht ihre Kosten-Nutzen-Bilanz im Sozialstaat, welche die Amplituden solcher Aufreger bestimmt. Entscheidend ist, wie gesellschaftlich mit dem Thema umgegangen wird. Kurz gesagt, nicht die Größe des "Problems" bestimmt das Palaver, sondern die Art und Weise, wie es die politischen Akteure aufgreifen. Der Ton macht also die Musik.

Das ist gewollt. Es ist attraktiver, ein Thema auf die Agenda zu setzen und dort zu halten, als es sachorientiert und unaufgeregt zu behandeln und Probleme, die es gibt, zu lösen. Wer Migration als Gefahr des Sozialstaats darstellt, nimmt auch in Kauf, dass die Renationalisierung an Fahrt gewinnt. Er darf sich bei der nächsten Gelegenheit nicht wundern, dass sein Werben um die Unterstützung des europäischen Projekts ins Leere läuft. Es passt eben nicht zusammen, sich den Sorgen der Menschen nur mit aufbauschender Rhetorik zu widmen und sie dann wieder für die europäische Solidarität der Hilfspakete begeistern zu wollen. Und die Kollateralschäden können erheblich sein.

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