Arbeitsmarktpolitik:"Hartz IV ist ein System zur Massenverarmung"

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SZ: Wie leben die Betroffenen damit?

Thomé: Das ist sehr unterschiedlich. Diejenigen, die es noch schaffen können, versuchen sich aus dem Arbeitslosengeld II herauszubewegen - sei es durch sittenwidrige Billigjobs oder sogar durch völlig ungesicherte Verhältnisse. Und die anderen - das sind die meisten - haben keine Chance, weil sie allein erziehend sind, zu alt, zu krank oder behindert.

SZ: Wie reagieren die Betroffenen darauf?

Thomé: Viele gehen psychisch an den Verhältnissen kaputt, sie verzweifeln und zerbrechen. Es gibt eine Reihe von Selbstmorden von Hartz-IV-Beziehern. Auch in unserem Forum hatte jemand vor kurzem angekündigt sich umzubringen und es dann auch tatsächlich gemacht, weil er seiner Familie als Schwerbehinderter nicht weiter zur Last fallen wollte.

SZ: Wirtschaftsforscher sagen, die Bezüge für Hartz-IV-Empfänger sollten nicht erhöht werden, um den Abstand zu den unteren Tarifgruppen nicht weiter zu verkürzen. Sprich: Ein Friseur oder ein Straßenfeger verdient netto auch nur geringfügig mehr.

Thomé: Selbstverständlich sollte jemand, der arbeitet, mehr Geld verdienen als jemand, der nicht arbeitet. Das ist aber jetzt schon der Fall. Außerdem werden auch die Löhne steigen, wenn die Regelleistungen erhöht werden. Im Moment will das Kapital keine existenzsichernden Löhne zahlen, sondern staatlich subventionierte Löhne haben.

SZ: Die Linke fordert seit Jahren, Hartz IV "abzuschaffen". Teilen Sie diese Forderung?

Thomé: Es ist sicher zu kurz gegriffen, Hartz IV einfach nur "abzuschaffen". Die Frage ist, was danach kommt. Das derzeitige Hartz-IV-System ist ein System zur Massenverarmung, mit dem ein menschenwürdiges Leben nicht sicherzustellen ist. Wir brauchen auf jeden Fall eine bedarfsdeckende soziale Absicherung derjenigen, die von den Arbeitgebern aufs Abstellgleis geschoben wurden. Für die Arbeitnehmer brauchen wir einen Mindestlohn, der garantiert, das diese nicht auf staatliche Alimentation angewiesen sind. Wie es dann genannt wird, ist eigentlich egal. Wichtig ist, dass es erarbeitet und erstritten wird.

Harald Thomé ist Vorsitzender des Erwerbslosenvereins Tacheles in Wuppertal. Er berät seit fast 15 Jahren Arbeitslose und lehrt Sozialrecht als freier Dozent.

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