Arbeitsmarktpolitik:"Hartz IV ist ein System zur Massenverarmung"

Harald Thomé, Vorsitzender des Erwerbslosenvereins Tacheles, berät Arbeitslose - und kann Schauriges berichten. Interview: Ch. Schäfer

SZ: In der Großen Koalition wird derzeit heftig über die Höhe der Hartz-IV-Leistungen gestritten. Sind 347 Euro pro Monat genug, um im täglichen Leben über die Runden zu kommen?

Harald Thomé

Berät seit fast 15 Jahren Arbeitslose: Der Vorsitzende des Erwerbslosenvereins Tacheles Harald Thomé

(Foto: Foto: privat)

Harald Thomé: Nein, keinesfalls. Wir machen in der Beratung die Erfahrung, dass das Geld der Betroffenen in der Regel am Zwanzigsten eines Monats aufgebraucht ist. Um ein menschenwürdiges Leben sicherstellen zu können, muss die Regelleistung auf 500 Euro erhöht werden.

SZ: Da das derzeit nicht der Fall ist: Mit welchen Problemen kommen die Leute zu Ihnen?

Thomé: Gerade eben hatte ich eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern im Beratungsgespräch, die in der Mitte des Monats nur noch 80 Euro übrig hatte, weil sie wegen des Schulbeginns 256 Euro für die Lernmittel ihrer drei Kinder ausgeben musste. Nach dem Gesetz soll sie die Schulmaterialien aus ihrem Regelsatz bezahlen - wie aber soll man zu viert von 80 Euro zwei Wochen überleben?

SZ: Was haben Sie der Frau geraten?

Thomé: Sie hat der Behörde mit unserer Unterstützung eine sehr kurze Frist gesetzt. Und wenn diese nicht reagiert, wird sie versuchen, ihren Anspruch per Eilverfahren vor einem Sozialgericht durchzusetzen, um noch diesen Monat an Geld zu kommen - im Zweifelsfall auch auf Darlehensbasis.

SZ: Die meisten, die zu Ihnen kommen, haben also Geldsorgen?

Thomé: Die Schwierigkeiten gehen quer durchs Beet. Problem Nummer Eins ist, dass die Behörden angewiesen sind, das Gesetz sehr restriktiv umzusetzen. Demzufolge entstehen in fast allen Bereichen der Leistungsgewährung Schwierigkeiten: Den Arbeitslosengeld-II-Empfängern wird zu wenig Geld ausbezahlt, die Unterkunftskosten und die Heizkosten werden gekürzt und Sanktionen verhängt, die nicht hätten verhängt werden dürfen - es brennt einfach in fast allen Bereichen, die man sich nur vorstellen kann.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie viele Hartz-IV-Empfänger auf den großen psychischen und materiellen Druck reagieren.

"Hartz IV ist ein System zur Massenverarmung"

SZ: Wie leben die Betroffenen damit?

Thomé: Das ist sehr unterschiedlich. Diejenigen, die es noch schaffen können, versuchen sich aus dem Arbeitslosengeld II herauszubewegen - sei es durch sittenwidrige Billigjobs oder sogar durch völlig ungesicherte Verhältnisse. Und die anderen - das sind die meisten - haben keine Chance, weil sie allein erziehend sind, zu alt, zu krank oder behindert.

SZ: Wie reagieren die Betroffenen darauf?

Thomé: Viele gehen psychisch an den Verhältnissen kaputt, sie verzweifeln und zerbrechen. Es gibt eine Reihe von Selbstmorden von Hartz-IV-Beziehern. Auch in unserem Forum hatte jemand vor kurzem angekündigt sich umzubringen und es dann auch tatsächlich gemacht, weil er seiner Familie als Schwerbehinderter nicht weiter zur Last fallen wollte.

SZ: Wirtschaftsforscher sagen, die Bezüge für Hartz-IV-Empfänger sollten nicht erhöht werden, um den Abstand zu den unteren Tarifgruppen nicht weiter zu verkürzen. Sprich: Ein Friseur oder ein Straßenfeger verdient netto auch nur geringfügig mehr.

Thomé: Selbstverständlich sollte jemand, der arbeitet, mehr Geld verdienen als jemand, der nicht arbeitet. Das ist aber jetzt schon der Fall. Außerdem werden auch die Löhne steigen, wenn die Regelleistungen erhöht werden. Im Moment will das Kapital keine existenzsichernden Löhne zahlen, sondern staatlich subventionierte Löhne haben.

SZ: Die Linke fordert seit Jahren, Hartz IV "abzuschaffen". Teilen Sie diese Forderung?

Thomé: Es ist sicher zu kurz gegriffen, Hartz IV einfach nur "abzuschaffen". Die Frage ist, was danach kommt. Das derzeitige Hartz-IV-System ist ein System zur Massenverarmung, mit dem ein menschenwürdiges Leben nicht sicherzustellen ist. Wir brauchen auf jeden Fall eine bedarfsdeckende soziale Absicherung derjenigen, die von den Arbeitgebern aufs Abstellgleis geschoben wurden. Für die Arbeitnehmer brauchen wir einen Mindestlohn, der garantiert, das diese nicht auf staatliche Alimentation angewiesen sind. Wie es dann genannt wird, ist eigentlich egal. Wichtig ist, dass es erarbeitet und erstritten wird.

Harald Thomé ist Vorsitzender des Erwerbslosenvereins Tacheles in Wuppertal. Er berät seit fast 15 Jahren Arbeitslose und lehrt Sozialrecht als freier Dozent.

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