Süddeutsche Zeitung

Zwischenbilanz Arabischer Frühling: Ägypten:Die Revolution betrügt ihre Kinder

Ägypten tritt sechs Monate nach Beginn der Demokratiebewegung in Nordafrika auf der Stelle: Das Militär, das die Ägypter scheinbar vor dem schießwütigen Machthaber Mubarak gerettet hat, wurde nie in Frage gestellt. Nun verhindern die Generäle einen Umbruch, der den Namen demokratisch verdient hätte. Schuld daran ist auch der Westen.

Tomas Avenarius, Kairo

Das Wort Revolution verheißt die sprichwörtliche Tabula rasa: Mit der alten Ordnung soll reiner Tisch gemacht werden. Revolutionäre wollen die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Staat und Gesellschaft auf den Kopf stellen, Freiheit und Gerechtigkeit schaffen. Bei den arabischen Aufständen geht das Wort Revolution einem daher nur noch schwer über die Lippen: In Tunesien und Ägypten stockt der Umbau autokratisch regierter Gesellschaften hin zu halbwegs demokratischen Verhältnissen. In Syrien, Libyen und im Jemen wird weiter geschossen und gestorben. Und in den verbleibenden Staaten herrscht eigenartige Friedhofsruhe.

Schon oft haben historische Umwälzungen ihre Protagonisten um ihre Hoffnungen betrogen. Der Kern jeder Revolution ist die Hoffnung, dass das Neue besser wird als das Alte. Aber unter der revolutionären Oberfläche erhalten sich fast immer tief eingefräste Strukturen - in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Sie werden nicht selten nur geschickt umetikettiert und ergeben Verhältnisse, die mit den alten letztlich deckungsgleich sind. Auch Ägyptens Revolution ist dabei, ihre Anhänger auf diese Weise zu betrügen. Das Militär, im Februar noch gefeiert als Retter des Volkes vor dem schießwütigen Machthaber Hosni Mubarak, stellt sich einem wirklich demokratischen Umbruch in den Weg.

Das erstaunt nicht: Die Tahrir-Platz-Revolution hatte im Januar als Aufstand begonnen, mit dem das Volk den Sturz des Systems gefordert hatte. Sie wurde im Februar gestoppt durch einen aufgehübschten Militärcoup. Die Generäle riefen: "Wir schießen nicht auf unser Volk." Sie stürzten den greisen Mubarak und tarnten damit einen Doppelputsch gegen den Präsidenten und das Volk. Sie stoppten einen Prozess, bei dem am Ende womöglich das ganze Mubarak-System über den Haufen geworfen worden wäre - einschließlich des Militärapparats.

Ägyptens Revolution, die noch keine ist oder nie eine war, tritt seitdem auf der Stelle. Die Demokratie-Revolutionäre der ersten Tage versuchen nun die Alles-oder-nichts-Stimmung vom Januar wiederzubeleben. Sie besetzen aufs Neue den Tahrir-Platz, fordern zügige Prozesse gegen alte Regimegrößen, eine wirklich neue Verfassung. Die Islamisten als dreiste Trittbrettfahrer des Januar-Aufstands kungeln lieber mit dem herrschenden Militär. Sie folgen den Vorgaben der Generäle für die Wahlen und wollen die Verfassung nur runderneuern. Die Religiösen hoffen, die alte Verfassung im Sinne ihrer bigotten Ideologie verbiegen zu können. Die Putsch-Generäle machen beiden Seiten kleinere Zugeständnisse und manipulieren sie zum eigenen Vorteil. Bisher gelingt ihnen das gut.

Einer der Hauptgründe für den Stillstand ist, dass eine Frage nicht gestellt wird: die nach der Rolle des Militärs. Die Bremser-Generäle hatten Mubarak rechtzeitig fallen lassen. Sie hatten erkannt, dass der ehemalige Waffenbruder als Präsident nicht zu halten war - das Mubarak-System aber schon. Das Land war seit Gamal Abdul Nasser ein Militärregime, bei dem sich Ex-Offiziere vor pseudodemokratischer Kulisse zum Staatschef wählen ließen. Dieser regierte dann in Absprache mit den uniformierten Kameraden.

Das ist bis heute so geblieben. Kairos Revolutions-Generäle bestimmen, wann ein neues Parlament gewählt und wie die neue Verfassung geschrieben wird. Die Uniformierten garantieren die öffentliche Ordnung und moderieren zu ihrem Vorteil zwischen Demokraten und Islamisten, stellen Missliebige vor Militärgerichte. Im Hintergrund verdient das Militär wie früher mit seinen zivilen Betrieben, bekommt Waffen aus den USA und lässt sich nicht in den Verteidigungshaushalt schauen.

In Ägypten mag sich mit dem Sturz Mubaraks vieles geändert haben. Für die Armee ist vorerst alles beim Alten geblieben. Als angeblicher Garant der Revolution macht sie unausgesprochen den Schutz ihrer Institutionen und Interessen zur Vorbedingung für jeden halbwegs demokratischen Umbau. Die Streitkräfte selbst waren aber eine tragende Säule des Mubarak-Systems. Sie sind es bis heute, auch ganz ohne Mubarak. Solange die Frage nach ihrer Rolle im Folter- und Korruptionsstaat nicht gestellt wird, kann die Revolution hin zur demokratischen Gesellschaft kaum gelingen.

Der Westen hat den ägyptischen Aufstand nach langen Schrecksekunden als Schritt zu einer arabischen Demokratie begrüßt. Gleichzeitig wurden Bedingungen gestellt, die als Wünsche verbrämt waren: Islamisten, von Haus aus begrenzt demokratiefähig, dürfen nicht wirklich an die Macht kommen. Das Verhältnis zu Israel darf sich nicht entscheidend ändern. Die gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen auch nicht. Die Frauen sollen gleichberechtigt, die Christen respektiert werden.

Als Garant all dessen sah man aber nicht die Revolutionäre, sondern die Generäle. Aus diesem Grund hat auch der Westen die entscheidende Frage verweigert: die nach der Rolle der Armee. Offen ist, ob das Kalkül aufgeht. Echte Revolutionen verlaufen in Wellen. In Ägypten ist die erste vorbei. Sollte es zu einer zweiten kommen, könnte es schwierig werden für das ägyptische Militär und für seine Sympathisanten im Westen.

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SZ vom 15.07.2011/liv
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