Süddeutsche Zeitung

Arabischer Frühling:Die arabische Hoffnung lebt

Dem Arabischen Frühling folgte tiefer Winter. Allenfalls in Tunesien ist etwas von dem Traum geblieben - dem Westen sollte es jede Anstrengung wert sein, das Land zu unterstützen.

Kommentar von Paul-Anton Krüger

Der Friedensnobelpreis wird seit 1901 am 10. Dezember verliehen, dem Todestag seines Stifters Alfred Nobel. Passender wäre gewesen, das tunesische Quartett für den Nationalen Dialog eine Woche später zu ehren - am 17. Dezember. Das ist der Tag, an dem sich vor fünf Jahren der Gemüseverkäufer Mohammed Bouazizi in Sidi Bouzid anzündete. Es war der Moment, der den Arabischen Frühling auslöste - die Aufstände gegen Jahrzehnte herrschende, brutale, korrupte und diebische Diktatoren.

Einer Selbstverbrennung folgten die Aufstände

Es lohnt sich, Bouazizis Beweggründe für die Selbstverbrennung in Erinnerung zu rufen an diesem Tag, an dem Tunesien und seine Zivilgesellschaft geehrt werden als Vorbilder für einen gelungenen Wandel hin zu Demokratie. An diesem Tag herrscht nämlich auch in Ägypten ein Polizeistaat, schlimmer als er unter Mubarak je war. An diesem Tag versucht ein Ex-General des Militärgeheimdienstes im neuen Parlament eine Koalition zu bilden, deren Programm es ist, den Präsidenten zu unterstützen (einen Ex-General des Militärgeheimdienstes) und die Rechte der Abgeordneten zu beschneiden.

An diesem Tag lassen sich im bürgerkriegsähnlichen Chaos in Libyen erste Zeichen dafür entdecken, dass die verfeindeten Fraktionen doch noch Frieden schließen könnten, um zu verhindern, dass ihr Land an den "Islamischen Staat" fällt.

An diesem Tag werden im syrischen Bürgerkrieg wieder Dutzende sterben. Die Rebellen in Homs, einst Hauptstadt der Revolution, werden, ausgehungert von drei Jahren Belagerung durch das Regime von Baschar al-Assad, ihren Widerstand aufgeben. An diesem Tag ist fast schon vergessen, dass auch in Jemen die Menschen gegen die Tyrannei rebellierten. Inzwischen will die Welt nichts wissen von ihrem Krieg, in dem Tausende Zivilisten sterben und die reichen Golfstaaten das bitterarme Land in Ruinen bomben.

Der Gemüsehändler Bouazizi verbrannte sich aus Protest gegen die Willkür des Staates, gegen die Demütigungen. Er war verzweifelt über seine prekären Lebensverhältnisse. Eine Beamtin hatte seine Waage und Waren beschlagnahmt und ihm so seine Lebensgrundlage geraubt. Er hatte kein Geld, Bakschisch zu zahlen. Er wurde getreten und geschlagen. Und der Gouverneur wollte seinen Protest gegen diese Behandlung nicht hören. Millionen in der arabischen Welt können sich mit seinem Schicksal identifizieren.

Nach den Aufständen kam die dunkle Nacht

Der Arabische Frühling war keine Verschwörung des Westens, wie heute das Regime in Kairo glauben machen will oder Syriens Gewaltherrscher Assad und seine Apologeten. Es waren genuine und spontane Proteste der Araber gegen ihre Lebensbedingungen. Getragen wurde der Protest von jungen Aktivisten, die aufgewachsen waren in den Diktaturen und ein präzises Gefühl dafür hatten, wie unterhöhlt die Unterdrückungsapparate schon waren.

So verschieden diese Länder sind: Die Menschen verband, dass sie ihre Angst vor der Gewalt des Staates überwanden, dass sie ihre Würde einforderten. Es einten sie ihre Ziele - kondensiert in der Parole "Brot ! Freiheit! Soziale Gerechtigkeit!"

Geblieben ist von diesen Träumen kaum etwas; allenfalls in Tunesien haben sie sich zum Teil erfüllt. Soziale Probleme und die hohe Arbeitslosigkeit stellen das Land auf die Probe. Islamistische Terroristen setzen alles daran, die Idee von der Vereinbarkeit von islamischer Tradition und Demokratie kaputt zu bomben.

Dem Westen, vor allem der EU, sollte es jede Anstrengung wert sein, Tunesien zu helfen, auch wenn das Modell nicht ohne Weiteres auf andere arabische Länder zu übertragen ist. Der Arabische Frühling mag direkt in einen tiefen Winter übergegangen sein. Aber die Kriege und das Chaos sollten nicht vergessen lassen, dass die Forderungen der Revolutionäre berechtigt waren und zutiefst verwurzelt sind im menschlichen Verlangen nach Würde. Das muss Leitfaden westlicher Politik bleiben.

Neue Revolutionen sind unwahrscheinlich - die Menschen mit Überleben beschäftigt

Wo den Menschen ihre Würde verweigert wird, kann es keine Stabilität geben - nicht in Assads Syrien, wo Zehntausende in Folterkellern hocken, nicht in Sisis Ägypten, wo die Gefängnisse voll sind und die Armee subventionierte Lebensmittel an die Armen verteilen muss, um das Versagen des Staates zu kaschieren. Neue Revolutionen sind unwahrscheinlich. Inzwischen haben sich die Sicherheitsapparate eingestellt auf neue Protestformen, viele Menschen sind damit beschäftigt, ihr Überleben zu sichern. Gerade die Mittelklasse, die unter den Diktaturen auskömmlich leben konnte, wenn sie politisch unauffällig war, ist desillusioniert.

Vor den Problemen der Region lassen sich die Augen nicht verschließen. Die Menschen werden sich nicht mehr anzünden. Aber viele sind bereit, ihr Leben zu riskieren - für eine bessere Zukunft auf der anderen Seite des Mittelmeeres.

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SZ vom 11.12.2015/max
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