Arabische Welt:Was vom Frühling übrig blieb

Arabische Welt: Kairo, Januar 2012: Am Tahrirplatz hängen die Bilder von gefolterten und getöteten Menschen während der Unruhen.

Kairo, Januar 2012: Am Tahrirplatz hängen die Bilder von gefolterten und getöteten Menschen während der Unruhen.

(Foto: Regina Schmeken)

Soziologie aus der Graswurzelperspektive: Scott Anderson beschreibt am Beispiel von sechs Lebensgeschichten den Zustand der arabisch-muslimischen Welt nach den gescheiterten Aufständen.

Rezension von Wolfgang Freund

Dass die arabische Welt, so wie man diese bislang zu kennen glaubte, allmählich in ein multidimensionales Chaos zu versinken droht, gehört inzwischen zu den global nachgebeteten Binsenweisheiten politischen Fühlens, Denkens und Redens. Auslösefaktor Nummer eins: der sogenannte Arabische Frühling des Winterhalbjahres 2010/11, inszeniert von Tunesien und, im Schulterschluss, Ägypten.

Der jeweilige "Demokrator", beziehungsweise postpharaonische Alleinherrscher wie Zine el-Abidine Ben Ali oder Hosni Mubarak, "ging" oder "wurde gegangen". Dem libyschen Muammar al-Gaddafi, selbsternannter "König aller afrikanischen Könige" geschah Schlimmeres. Er wurde "neutralisiert", wie der zeitgemäße Fachbegriff für eine offiziell sanktionierte Ermordung lautet, im Falle Gaddafis auf eine Art und Weise, die weder an Abscheulichkeit noch an nebulöser Rätselhaftigkeit hinsichtlich der Auftraggeber solcher "Neutralisierung" etwas zu wünschen übrig ließe.

Die Gerüchteküche zu den letzten Lebensminuten (20. Oktober 2011) des libyschen Ritters von der traurigen Gestalt, den ein früherer tunesischer Außenminister (Mohamed Masmoudi, Mitte der Siebzigerjahre) einmal zum "intelligentesten und weitsichtigsten arabischen Staatenlenker der Gegenwart" hochgejubelt hatte, quillt über von unappetitlichen Details. Und was auf solchem Niveau in "arabischen Frühlingsländern" wie Syrien, Irak oder Jemen demnächst noch geschehen wird, wer weiß es schon?

1001 Facetten des gegenwärtigen arabo-islamischen Horrors

Entsprechend sprudelt seit Jahren die Bücherwelle in allen Zungen. Viel echtes Fachwissen und nicht weniger üppiges So-vorgeben-als-ob durchmischen sich zu einem weitgehend unverdaulichen Ragout. Der Leser bleibt dabei zumeist auf der Strecke, erschlagen von exotisch klingenden Namen, die ihm nichts bedeuten, und regionalen Einzelheiten, die er nicht durchschauen kann, da ihm "die innere Linie" (Napoleon I.) der Betrachtung fehlt. Bleibt dann noch die Frage offen, ob die Mehrzahl der Autoren, an die hier gedacht wird, je eine solche besaß.

Scott Anderson, Jahrgang 1959, amerikanischer Erfolgsjournalist (New York Times), Autor einer Lawrence-of-Arabia-Biografie (2013), ging einen anderen Weg, um uns die 1001 Facetten des gegenwärtigen arabo-islamischen Horrors näherzubringen. Versuch gelungen oder verfehlt? Liegt auch am Leser und seinen Motivationen, sich derartiger Lektüre auszusetzen sowie seinen geopolitischen Vorabkenntnissen.

Die aus den Fugen geratene arabische Welt durchsichtiger werden zu lassen, versucht Anderson über den Weg von sechs Lebensgeschichten. Sie durchziehen das ganze Buch wie die Arterien einen lebenden Körper. Soziologie aus der Graswurzelperspektive. Wer einen solchen Einstieg in komplexe politische und soziale Probleme zu goutieren mag, wird Andersons Buch mit Interesse und innerer Zustimmung lesen. Auch hat die Übersetzerin das anglo-amerikanische Original (Laura Su Bischoff) gut ins Deutsche "rübergemacht".

Laila Soueif, die Kairoer Mathematikprofessorin, Majdi El-Mangoush aus Libyen (Misrata), der Arzt Dr. Azar Mirkhan aus Kurdistan, Majid Ibrahim aus Syrien, die Irakerin Khulood Al-Zajdi und der etwas einfältig-düstere, wohl schlimm geendet habende (man weiß es nicht so genau) Iraker Wakaz Hassan sind die Hauptakteure in Andersons "Stück".

Migratorisch durchgeschüttelt von den "Frühlingsstürmen" ihrer jeweiligen Herkunftsländer halten sie die Story am Laufen. Derart ist das typisch Amerikanische an dem Buch. Es ließe sich leicht zu einem Hollywood-Drehbuch umschreiben. Auch die zahlreichen, zum Teil durchaus aussagekräftigen Fotos von Paolo Pellegrin mögen Derartiges suggerieren.

Cover

Scott Anderson: Zerbrochene Länder – Wie die arabische Welt aus den Fugen geriet. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff. Suhrkamp Verlag Berlin 2017, 264 Seiten, 18 Euro.

Doch das Buch als solches hätte an spontaner Lesbarkeit zweifelsohne gewonnen, wäre der deutsche Verlag bei der herausgeberischen Üblichkeit geblieben, den Texten ein strukturiertes Inhaltsverzeichnis voran- oder nachzustellen. Auf Anfrage bei Suhrkamp wurde mitgeteilt, man habe dies absichtlich nicht getan, um das nun übersetzte englischsprachige Buchoriginal nicht zu verfälschen; denn ursprünglich waren die Texte in The New York Times Magazine erschienen und später zu einem Buch "Fractured Lands. How the Arab World Came Apart" zusammengenagelt worden. In der amerikanischen Buchausgabe gebe es auch kein Inhaltsverzeichnis. Fair enough.

Nur kann man hier auch anderer Ansicht sein. Jedes an sachlichen Zusammenhängen orientierte Druckerzeugnis erschließt sich dem Leser zunächst einmal dadurch, dass dieser erste Blicke auf ein Inhaltsverzeichnis zu werfen wünscht, um herauszufinden, was da im Einzelnen auf ihn zukommt. Ein klares Manko hier.

Die arabischen Länder des Jahrgangs 2017 sind an ihrer "post-osmanischen" Entstehungsgeschichte erkrankt und heute im Begriff, auch an dieser zu zerbrechen, oder in neue unerwartete Einheiten zu zerfallen (spannend als Beispiel der Kurdenkonflikt, wie dieser sich zwischen der Türkei, Syrien, dem Irak und Iran aufzuladen beginnt).

Leseprobe

Ein Blick von der nordafrikanischen Atlantikküste bis an den Persischen Golf zeigt auch ein ins Auge springendes Kuriosum. Nur drei Länder dieser Region können heute bei näherer Betrachtung ihrer inneren Angelegenheiten auf eine eigene, im engeren Sinne "nationale" Geschichte zurückgreifen, die ganz oder teilweise auch ohne die Bindung an das 1918 zu Ende gegangene Osmanische Imperium existiert hatte: Ägypten, Tunesien, Marokko. Alles andere waren über Jahrhunderte hinweg einigermaßen deutlich umrissene Provinzen des Osmanischen Reiches gewesen und nie etwas anderes.

Vielleicht könnte man hier den Jemen und ein paar Fischer- und Schmugglerscheichtümer an der Golfküste zusätzlich noch ausklammern; aber was zählt das schon vor der Gesamtfläche dieser arabo-islamischen Welt, historisch betrachtet, was die letzten Jahrhunderte anbelangt?

Heutige "Staaten" wie Libanon, Syrien, Jordanien und Israel waren bis 1916/1918 der sogenannte aus Stambul fernverwaltete "Fruchtbare Halbmond", auf Französisch bis 1918 La Grande Syrie geheißen, mit Regionalhauptstadt Damaskus. Eine osmanische Provinz, der das anglo-französische Sykes-Picot-Abkommen (1916) und die britische Balfour Declaration (1917) den Garaus gemacht hatten.

Bei Auflösung des Osmanischen Reiches wurden alte Grenzen niedergerissen und eine Unzahl neuer Grenzen von den Versailler Siegermächten mit dem Lineal frisch gezogen. Ohne nähere Berücksichtigung dort lebender Völker unterschiedlicher Ethnien, Sprachen, Religionen, Kulturen und Sozialordnungen. Damals entstanden die Keime jener regionalpolitischen Krebszellen, die heute zu unterschiedlichen, durchweg perversen Metastasen explodieren.

Man wird an diesen geopolitischen Krebsgeschwüren noch lange zu "therapieren" haben. Eine Erkenntnis, die sich aus Scott Andersons "zerbrochenen Ländern" einmal mehr brutal aufdrängt.

Wolfgang Freund ist deutsch-französischer Sozialwissenschaftler (Schwerpunkt "Mittelmeerkulturen"). Zahlreiche Publikationen auf Deutsch, Französisch und Englisch. Lebt heute in Südfrankreich.

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