Arabische Welt:Die Toten der anderen

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Das Wembley-Stadion erstrahlt in den Farben und unter dem Motto der französischen Republik. Solche Solidaritätsbekundungen gab es nach den Anschlägen von Beirut nicht.

(Foto: Clive Rose/Getty Images)

Allein im Irak starben vergangenes Jahr 10 000 Menschen durch Terroristen. Im Westen berührt dies kaum jemanden mehr. Ganz anders als die jüngsten Anschläge in Paris.

Von Paul-Anton Krüger

Es ist das Ende des Ramadan und der Beginn des gnadenlos heißen Sommers. Die Menschen in Khan Bani Saad kaufen ein für das dreitägige Fest des Fastenbrechens. Für Muslime bedeutet es ähnlich viel wie Weihnachten für Christen. Die Familie versammelt sich, isst zusammen, es gibt Berge von Süßigkeiten, und die Kinder bekommen Geschenke. Mitten auf dem Markt des überwiegend von Schiiten bewohnten 17 000-Einwohner-Ortes nordöstlich der irakischen Hauptstadt Bagdad platziert sich ein Eisverkäufer mit seinem Kleinlaster. Er verspricht Abkühlung im Juli, in dem auch nach Sonnenuntergang die Temperatur oft nicht unter 35 Grad sinkt. Wegen der Feiertage verkaufe er sein Eis sogar zu günstigeren Preisen, ruft er. Bald bildet sich eine Menschentraube um den Wagen.

Ein scharfer Knall, eine gewaltige Explosion zerreißen Kleinlaster und Festtagsstimmung. Häuser am Markt stürzen ein, Trümmer landen auf Dächern, die Hunderte Meter entfernt sind. Ein metertiefer Krater zeugt von der Gewalt der Bombe, die der Selbstmordattentäter im Eiswagen gezündet hat. Ein Polizist berichtet, Einwohner würden Körperteile der Getöteten in Holzkisten einsammeln, aus denen sie vorher Tomaten, Gurken und Frühlingszwiebeln verkauft hatten.

Der Terror traf sie, weil sie Schiiten waren

Die Menschen starben nicht, weil die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) den Ort erobern wollte. Der Terror traf sie, weil sie Schiiten waren. Diese gelten den sunnitischen Extremisten als Ungläubige. Am Ende des 17. Juli 2015 sind 120 Menschen tot - etwa so viele wie jetzt in Paris. Doch an Khan Bani Saad und den schwersten Anschlag im Irak seit zehn Jahren erinnert sich im Westen kaum jemand mehr.

Am vergangenen Donnerstagabend, 24 Stunden vor Paris, zündeten zwei Selbstmordattentäter im Feierabend-Trubel einer Einkaufsstraße in Beirut ihre Sprengstoffgürtel. 43 Menschen kamen dort zu Tode. Wie die Opfer von Paris waren sie am Abend auf der Straße unterwegs. Wieder wollten die IS-Terroristen wohl Schiiten treffen. Sie schlugen in einem Viertel zu, das von der Hisbollah-Miliz kontrolliert wird, die in Syrien gegen den IS kämpft. Doch sie ermordeten unschuldige Zivilisten - wie in Khan Bani Saad, wie in Paris.

Doch als Brandenburger Tor, Kapitol und andere Monumente weltweit im Blau-Weiß-Rot der französischen Trikolore erstrahlten, als Facebook es erstmals den Menschen während der Attacken in Paris ermöglichte, sich für Freunde als sicher zu markieren, da fragten einige Libanesen im Internet: Was ist mit unseren Toten? Sind die weniger wert? Wo ist die Solidarität mit Libanon?

Auch in Libanon wurden für Khan Bani Saad keine Baudenkmäler angestrahlt

Besonders oft geteilt wurde ein Blog-Eintrag von Elie Fares, einem Mediziner aus Beirut. Er wirft diese Fragen auf, verbindet sie aber mit Selbstkritik: "Wir können darum bitten, dass die Welt doch Beirut für genauso wichtig halten soll wie Paris", schreibt er. Es sei eine Welt, die sich nicht um arabische Leben schere, "aber wir sind ein Volk, das sich nicht einmal um sich selbst kümmert". Auch in Libanon wurden für Khan Bani Saad keine Baudenkmäler angestrahlt. Manchen Bewohnern Beiruts gingen die Anschläge in Paris näher als ein Attentat, das sich 15 Minuten von ihren Wohnungen entfernt ereignet hatte, wie Elie Fares schreibt.

Persönliche Betroffenheit hängt offenbar nicht nur von der Opferzahl ab und nur bedingt von der räumlichen Nähe zu einem Ereignis. Der Umfang der Medienberichte orientiert sich ebenso wie die Solidarisierung und bis zu einem gewissen Grad auch die Priorität der Politik an der kollektiven, subjektiv empfundenen Nähe zu einem Ereignis, zu den Opfern des Terrors.

Nirgends starben 2014 so viele Menschen durch Terror wie in der arabischen Welt; allein im Irak gab es 10 000 Opfer. Der IS, der dort seine Basis hat, wird inzwischen als Bedrohung auch für den Westen wahrgenommen. Nigeria aber, wo die ebenfalls unter der Flagge des Kalifats mordenden Banden Boko Harams fast genauso viele Menschen umbrachten wie der IS im Irak, wird wenig Aufmerksamkeit zuteil.

Goethe mag geahnt haben, dass der Friede nur trügerisch ist

Goethe lässt in seinem Faust den "andren Bürger" sagen: "Nichts bessers weiß ich mir an Sonn- und Feyertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrey, / Wenn hinten, weit, in der Türkey, / Die Völker auf einander schlagen. / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man Abends froh nach Haus, / Und segnet Fried' und Friedenszeiten." Er mag geahnt haben, dass der Friede nur trügerisch ist.

Doch was für Goethe "hinten, weit" war, liegt heute nur ein paar Flugstunden entfernt auf der anderen Seite des Mittelmeers: Libanon, Syrien, Libyen. Was immer man von der Kriegsrhetorik des französischen Präsidenten hält: Die Friedenszeiten in Europa werden immer wieder zerrissen werden von Attentaten wie in Paris. Davor warnen Regierungen und Geheimdienste bereits. Der IS weiß um die Verwundbarkeit westlicher Gesellschaften. Er weiß auch, wie er arabische Gesellschaften treffen kann. Hier wie dort ermordet er normale Menschen, die nur ein ganz normales Leben führen wollen. Ob dies aber zu mehr Empathie im Westen mit den Terroropfern im Nahen Osten führen wird, ist auch nach Paris fraglich.

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