Süddeutsche Zeitung

Anzeige gegen Westerwelle:"Ich tue alles, um wieder zu arbeiten"

Lesezeit: 2 min

Er hat den FDP-Chef wegen Beleidigung angezeigt: Im Gespräch mit sueddeutsche.de erklärt ein Hartz-IV-Empfänger, warum er kein Schmarotzer ist.

P. Barbera

FDP-Chef Guido Westerwelle steht wegen seinen Äußerungen zu Hartz IV weiterhin in der Kritik. Weil er sich durch die Aussagen des Außenministers in seiner Menschenwürde verletzt fühlt, hat Hartz-IV-Empfänger Gunther Clemens aus Niedersachsen jetzt Anzeige erstattet. Ein Gespräch über die Gründe.

sueddeutsche.de: FDP-Chef Guido Westerwelle spricht seit Tagen von nichts anderem als Hartz IV. Sie haben ihn jetzt wegen Beleidigung und Diskriminierung angezeigt. Womit hat er Sie beleidigt?

Gunther Clemens: Westerwelle behauptet, dass sich Hartz-IV-Empfänger faul auf dem Sozialteppich ausruhen. Ich empfinde es als eine persönliche Beleidigung, als Schmarotzer bezeichnet zu werden. Die Debatte in den Medien habe ich wütend verfolgt und mich an den Rand der Gesellschaft gedrängt gefühlt.

Ich würde sogar sagen: Ich habe mich in meiner Menschenwürde verletzt gefühlt. Nachdem Westerwelle dann öffentlich bei seinen Aussagen blieb und keine Einsicht zeigte, war das Fass für mich übergelaufen. Am Samstag habe ich bei der Polizeidirektion Niedersachsen Anzeige erstattet.

sueddeutsche.de: Der FDP-Chef spricht von "spätrömischer Dekadenz" und Wohlstand von Hartz-IV-Empfängern. Wie empfinden Sie die Sozialleistungen des Staates?

Clemens: Von Wohlstand kann keine Rede sein, schon gar nicht von Dekadenz. Als Hartz-IV-Empfänger hat man sehr wenig Geld. Aufgrund gesundheitlicher Probleme bin ich seit sechs Jahren arbeitslos und beziehe Arbeitslosengeld II. Ich tue jedoch alles, um wieder arbeiten zu können. Derzeit absolviere ich ein Praktikum in einem Jugendcafé, zudem bin ich Vorsitzender des Kreiselternrats für Schulfragen und engagiere mich seit kurzem auch im Landeselternrat. Natürlich darf man als Empfänger staatlicher Hilfeleistungen keine großen finanziellen Beträge erwarten. Von Dekadenz zu sprechen, das ist eine Frechheit.

sueddeutsche.de: Könnte man Westerwelles Aussagen nicht einfach als Polit-Show abstempeln und ignorieren?

Clemens: Das könnte man vielleicht, wären nicht auch schon ähnliche Behauptungen von anderen Politikern gefallen. Ich denke, es handelt sich hier nicht um Sprücheklopferei, sondern um den bitteren Ernst des Außenministers.

sueddeutsche.de: Westerwelle sagt, er habe nur mutig ausgesprochen, was eine schweigende Mehrheit denkt. Dadurch ist das Thema grundsätzlich geworden. Sollte man ihm nicht dankbar sein?

Clemens: Das könnte man, würde die Debatte richtig geführt. Aber wir sprechen derzeit überhaupt nicht mehr über den eigentlichen Anlass: das Urteil aus Karlsruhe. Ursprünglich ging es um die Kinder von Hartz-IV-Empfängern. Das wird in der ganzen Debatte um die "spätrömische Dekadenz" total vergessen.

sueddeutsche.de: Was versprechen Sie sich von Ihrer Anzeige?

Clemens: Zunächst einmal bin ich total überrascht von der Lawine, die ich angestoßen habe. Es freut mich, dass andere Hartz-IV-Empfänger auf mich zukommen und mir danken für meinen Mut. Von einigen habe ich sogar gehört, dass sie auch Anzeige erstatten wollen. Bezüglich meiner Anzeige muss man abwarten, was das Gericht entscheidet. Ich bin in jedem Fall froh, dass dadurch nun endlich auch ein Betroffener zu Wort kommt. Von Westerwelle würde ich mir wünschen, dass er sich einmal mit mir oder einem anderen Hartz-IV-Empfänger persönlich trifft. Dann kann er sich von Angesicht zu Angesicht anhören, wie die Realität aussieht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.53641
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.