Antisemitismus:Was Juden in Deutschland seit Kriegsende erleiden müssen

Kippa

Ein Mann mit Kippa. Aus Angst vor Anfeindungen tragen immer weniger Juden die Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit.

(Foto: dpa)

Täglich werden Juden beleidigt oder angegriffen, ihre Synagogen geschändet. Und immer wieder wird aus Hass auf Juden auch gemordet. Eine Chronologie der antisemitischen Straftaten in Deutschland.

Von Deniz Aykanat und Lukas Wittland

Der Anschlag von Halle zeigt einmal mehr, dass es in Deutschland nach 1945 mitnichten eine "Stunde null des Antisemitismus" gegeben hat. Antisemitische Straftaten sind seit dem Ende des Nazi-Regimes in der Bundesrepublik und auch in der damaligen DDR an der Tagesordnung. Seit 2001 bewegen sich die Zahlen des Bundesinnenministeriums um die 1500 pro Jahr. Durchschnittlich werden also täglich etwa vier Straftaten mit antisemitischem Hintergrund in Deutschland verübt. Die Zahlen sind zuletzt wieder gestiegen. 2018 kam es zu 1799 Vergehen, im Jahr davor waren es 1504. Das entspricht einem Anstieg um 19,6 Prozent.

Beim überwiegenden Teil der Straftaten handelt es sich um Bedrohungen und Beleidigungen sowie antisemitische Propaganda und Sachbeschädigungen. Sowohl 2017 als auch 2018 folgte den Worten allerdings in 37 Fällen auch Taten: So hoch ist die Zahl der antisemitischen Gewaltdelikte in den beiden vergangenen Jahren. Die meisten registrierten Straftaten werden von Personen aus dem rechten Spektrum verübt.

Ob Beleidigung oder tätlicher Angriff - die Dunkelziffer liegt in allen Bereichen vermutlich höher, denn viele Delikte werden nicht gemeldet oder zur Anzeige gebracht. Andere Fälle wiederum werden von Polizei und Justiz nicht als antisemitische Straftaten erkannt und registriert. So dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) des Vereins für Demokratische Kultur beispielsweise alleine in Berlin für das Jahr 2018 1083 antisemitische Vorkommnisse.

Diese Diskrepanz zwischen Zahlen des Bundesinnenministeriums und anderer Stellen könnte sich auch 2019 fortsetzen. Für die erste Hälfte des laufenden Jahres sind offiziell bislang 442 antisemitische Straftaten registriert worden, wie eine Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag zeigt. Auch hier kommt RIAS in der Hauptstadt schon auf mehr als 400 Fälle im ersten Halbjahr 2019.

Doch ein Blick allein auf die Statistiken reicht nicht aus, um das Ausmaß der Bedrohung durch den Antisemitismus in Deutschland zu erfassen. Selbst wenn im laufenden Jahr kein einziger jüdischer Mitbürger mehr geschlagen, beleidigt oder schief angesehen werden würde, die Fallzahlen also sinken würden, würde das Jahr 2019 dennoch aufgrund des Anschlags in Halle als trauriges Beispiel für den grassierenden Antisemitismus in Deutschland in die Geschichtsbücher Eingang finden - so wie einige andere Jahre, in denen antisemitische Straftaten traurige Bekanntheit erlangten:

25. Dezember 1959: Entweihung der Synagoge in Köln

In der Nacht von Heiligabend auf den ersten Weihnachtstag werden an den Sockel der frisch renovierten Kölner Synagoge die Worte "Deutsche fordern Juden raus" und etliche Hakenkreuze geschmiert. Die Täter, zwei Mitglieder der rechtsradikalen "Deutschen Reichspartei" werden am nächsten Tag gefasst. Die Tat ist nicht die erste antisemitische Schändung seit Kriegsende - anfang desselben Jahres wird an der Düsseldorfer Synagoge eine ähnliche Tat verübt -, aber die, die im In- und Ausland die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Mehrere Nachahmungstaten folgen.

13. Februar 1970: Sieben Tote bei einem Brandanschlag auf ein jüdisches Altenheim in München

Bis heute unbekannte Täter verüben einen Brandanschlag auf das Altenheim der israelitischen Kultusgemeinde an der Reichenbachstraße in München. Sieben jüdische Münchner sterben: zwei Frauen und fünf Männer, darunter zwei Holocaust-Überlebende. Ein 71-Jähriger stirbt beim Sprung aus dem vierten Stock, die anderen ersticken oder verbrennen. Die wieder aufgenommenen Ermittlungen durch die Bundesanwaltschaft wurden im Herbst 2017 ergebnislos eingestellt.

21. Februar 1970: Bombenanschläge auf Passagierflugzeuge in Frankfurt am Main und Zürich

Etwa 20 Minuten nach dem Start detoniert eine Bombe im Frachtraum einer Maschine der Austrian Airlines von Frankfurt am Main nach Wien. Obwohl die Explosion ein Loch in die Wand des Flugzeugs reißt, schafft es der Pilot, die Maschine zurück nach Frankfurt zu steuern und notzulanden. Alle 38 Menschen an Bord überleben. Später stellt sich heraus, dass die Bombe eigentlich in einer Maschine der israelischen El-Al-Airline detonieren sollte. Zwei Stunden später explodiert auch an Bord eines Swissair-Fluges von Zürich nach Tel Aviv eine Bombe. Die Maschine stürzt ab. Alle 47 Insassen kommen ums Leben. Für beide Anschläge werden palästinensische Terroristen verantwortlich gemacht, deren Hass hauptsächlich Israel galt, die aber bei Juden keinen Unterschied machten.

5. September 1972: Münchner Olympia-Attentat mit 17 Toten

Palästinensische Terroristen der Organisation "Schwarzer September" überfallen die Unterkunft der israelischen Mannschaft während der Olympischen Spiele in München. Sie nehmen elf israelische Athleten und Betreuer als Geiseln. Zwei von ihnen werden beim Versuch sich zu wehren, umgebracht. Ein Befreiungsversuch der deutschen Behörden auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck bei München scheitert. Die neun verbliebenen Geiseln und ein Polizist werden getötet. Fünf Terroristen sterben. Das Hauptmotiv der Attentäter war in erster Linie politisch und eher nachrangig antisemtisch. Sie wollten mit der Geiselnahme zweihundert in Israel inhaftierte Palästinenser freipressen.

August 1975: Paketbombenanschlag auf Heinz Galinski

In jenem Jahr missglückt ein Paketbombenanschlag auf Heinz Galinski. Er ist zu der Zeit Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Berlin und von 1988 bis zu seinem Tod 1992 Vorsitzender des Zentralrats der Juden. Nach seinem Tod verüben unbekannte Täter im September und Dezember 1998 Sprengstoffanschläge auf Galinskis Grab. Bei der Detonation im Dezember wird die Grabplatte fast komplett zerstört. Eine gegründete Sonderkommission stellte die Ermittlungen fünf Monate später ergebnislos ein.

19. Dezember 1980: Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke

Der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke werden in ihrer Erlanger Wohnung erschossen. Täter ist der Rechtsextremist Uwe Behrendt, ein Anhänger der 1980 verbotenen paramilitärischen "Wehrsportgruppe Hoffmann", er soll aus Antisemitismus gehandelt haben. Er wird 1984 verurteilt - allerdings in Abwesenheit. Ermittler gehen davon aus, dass Behrendt in den Libanon flüchtete und sich dort bereits 1981 das Leben nahm. Die Hintergründe des Mordes an Lewin und Poeschke sind bis heute weitestgehend ungeklärt. Mögliche Hintermänner wurden nicht verurteilt.

22. Februar 1992: Mord an Blanka Zmigrod

Die jüdische Garderobiere Blanka Zmigrod wird gegen Mitternacht auf dem Heimweg von einem Konzert in der Jahrhunderthall in Frankfurt am Main erschossen. Im Kettenhofweg wird die Holocaust-Überlebende mit einem Kopfschuss getötet. Der schwedische Rechtsterrorist John Wolfgang Alexander Ausonius wird im Februar 2018 wegen des Mordes an Zmigrod zu lebenslanger Haft verurteilt. In Schweden wurde er Anfang der neunziger Jahre gesucht, weil er zwischen 1991 und 1992 auf zehn Migranten schoss und einen von ihnen tötete. 1992 wurde er dort festgenommen.

29. August 1992: Sprengstoffanschlag auf das Holocaust-Mahnmal in Berlin

Das Mahnmal an der Putlitzbrücke in Berlin wird so schwer beschädigt, dass es demontiert und restauriert werden muss. Im März 1993 wurde es wieder aufgestellt und seitdem immer wieder mit antisemitischen Parolen beschmiert.

25. März 1994 und 7. Mai 1995: Anschläge auf Lübecker Synagoge

In der Nacht zum 25. März geht die Lübecker Synagoge in Flammen auf. Der Fall löst weltweit Entsetzen aus. Das erste Mal nach Jahrzehnten brennt in Deutschland wieder eine Synagoge. Am Folgetag demonstrieren 4000 Menschen unter dem Motto "Lübeck hält den Atem an" gegen Antisemitismus. 1995 werden vier Männer aus der rechtsextremen Szene in Lübeck wegen Brandstiftung und Beihilfe zur Brandstiftung zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und viereinhalb Jahren verurteilt. Am 7. Mai 1995 wird ein weiterer Brandanschlag auf die Synagoge verübt.

27. Juli 2000: Bombenanschlag am S-Bahnhof Wehrhahn in Düsseldorf

Bei einem Anschlag mit einer Splitterbombe am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn werden zehn Menschen teils schwer verletzt. Ein ungeborenes Kind stirbt im Leib der Mutter. Der Anschlag gilt einer Gruppe von Sprachschülern aus ehemaligen Ländern der Sowjetunion, die Hälfte von ihnen jüdischer Herkunft. Schon kurz nach dem Anschlag gerät Ralf S. als Verdächtiger in den Fokus der Polizei. Sie kann ihm die Tat aber nicht nachweisen. Im Juli 2018 spricht das Düsseldorfer Landgericht den Angeklagten S. frei. Viele Jahre später soll er, als er wegen nicht bezahlter Rechnungen im Gefängnis saß, gegenüber einem Mithäftling mit der Tat geprahlt haben. Im Februar 2017 wird er deshalb festgenommen. Das Gericht befindet jedoch, die Beweise würden nicht ausreichen. Der Anschlag bleibt damit weiter unaufgeklärt.

November 2003: Vereitelter Anschlag auf Münchner Synagoge

Rechtsextremisten der neonazistischen Gruppierung "Kameradschaft Süd" planen in München einen Sprengstoffanschlag bei der Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums am 9. November. Die Polizei kann den Anschlag vereiteln, der verheerend hätte ausgehen können: Bei den Tätern finden die Beamten neben konkreten Plänen 14 Kilogramm Sprengstoff. Rädelsführer Martin Wiese und mehrere Mitangeklagte werden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Brandanschläge von 2010 bis 2011:

  • Anschlag auf das Haus der Demokratie im brandenburgischen Zossen, in dem eine Ausstellung zum Thema jüdisches Leben gezeigt wird (23. Januar 2010). Ein Neonazi wird verurteilt.
  • Anschlag auf die Wormser Synagoge (17. Mai 2010).
  • Anschlag auf eine Totenhalle des jüdischen Friedhofs in Dresden (29. Aug. 2010).
  • Anschlag auf die Mainzer Synagoge (30. Oktober 2010).
  • Anschlag auf das Haus eines Israelis im brandenburgischen Gosen (23. Januar 2011).

27. August 2018: Angriff auf jüdisches Restaurant in Chemnitz

Die rechtsextremistischen Ausschreitungen in Chemnitz nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. sorgen weltweit für Schlagzeilen. Ein Fall löst besondere Bestürzung aus: Am zweiten Abend der Ausschreitungen sollen etwa zwölf vermummte und schwarz gekleidete Täter ein jüdisches Restaurant mit Steinen, Flaschen und abgesägten Stahlrohren angegriffen haben. Dabei sollen sie "Hau ab aus Deutschland, du Judensau" gerufen haben. Im Juni 2019 stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ohne Nennung von Gründen ein.

In eigener Sache

Der Täter von Halle (Saale) hat im Internet ein Video seines Anschlags und außerdem ein sogenanntes Manifest veröffentlicht. Der SZ liegen diese vor, wir veröffentlichen sie aber nicht. Terroristen versuchen, im Internet ihr Gedankengut zu verbreiten. Die SZ macht sich nicht zum Werkzeug dieser Strategie. Aus diesem Grund zeigen wir ebenfalls keine Bilder expliziter Gewalt und achten darauf, in der Berichterstattung über Details zur Tat die Würde der Opfer zu wahren.

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