Süddeutsche Zeitung

Antisemitismus:Selbst die Leisen werden laut

Nach einem Angriff auf ein jüdisches Paar spricht der Zentralrat der Juden von einer "neuen Qualität". Kritik erntet der Antisemitismusbeauftragte.

Von Stefan Braun, Berlin

Mit dramatischen Worten haben der Zentralrat der Juden und die Bundesregierung vor einer Verschärfung der politischen Lage für Juden in Deutschland gewarnt. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats, sprach nach einem Angriff auf ein älteres jüdisches Paar von einer "neuen Qualität" der Bedrohung; der Antisemitismusbeauftragte der Regierung, Felix Klein, warnte Juden am Wochenende davor, in bestimmten Orten und Stadtquartieren die jüdische Kippa zu tragen. Schuster und Klein galten bislang nicht als Mahner, die besonders schnell und besonders laut auftreten. Umso mehr zeigen ihre jüngsten Äußerungen zur Lage in Deutschland, wie sehr ihre Sorgen gewachsen sind.

Hintergrund für Schusters Warnung ist ein Vorfall, der sich vor gut einer Woche im niedersächsischen Hemmingen ereignet hatte. Dort hatte es einen Brandanschlag auf das Wohnhaus eines älteren jüdischen Paares gegeben, bei dem nur durch Glück nichts Schlimmeres passiert ist. Unbekannte hatten vor der Haustür ein Feuer gelegt und auf die Tür selbst "Jude" geschrieben. Als das Paar es bemerkte, war der Türvorleger verbrannt, und die Tür selbst verrußt. Dieser Angriff hat Sicherheitsbehörden und Schuster auch deshalb so bestürzt, weil es sich dabei um Täter handeln muss, die bewusst und von langer Hand ihre Opfer ausgewählt haben, da sich am Haus selbst kein Hinweis auf den jüdischen Glauben der Bewohner findet. Schuster sagte am Wochenende der Welt am Sonntag, hier seien Täter bewusst "in die Privatsphäre eingedrungen". Daraus ergebe sich "eine neue Qualität" der Bedrohung.

Michel Friedman sieht in der Warnung einen "Offenbarungseid des Staates"

Schuster betonte, ihm gehe es nicht so sehr um mehr Schutz durch die Sicherheitsbehörden. Von ihnen fühle sich die jüdische Gemeinde unterstützt. "Aber es wird Zeit, dass sich in der Gesellschaft der Wind wieder dreht", forderte Schuster. Das aggressive politische Klima sei hauptverantwortlich dafür, dass sich die Lage insgesamt verschlechtert habe.

Nicht besser ist das Bild, das der Antisemitismusbeauftragte der Regierung am Wochenende von der aktuellen Situation zeichnete. Felix Klein sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe, er könne Juden nicht mehr empfehlen, "jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen". Klein begründete seine Sicht auf die Lage mit einer "zunehmenden gesellschaftlichen Enthemmung und Verrohung". Sie sei der Nährboden für Antisemitismus.

Laut Klein gehen rund 90 Prozent der antisemitischen Straftaten auf Rechtsradikale zurück. Damit widersprach er Darstellungen von AfD und anderen, die vor allem die Einwanderung muslimischer Migranten für einen Anstieg des Antisemitismus verantwortlich machen. Klein ließ keinen Zweifel daran, dass es unter Muslimen Antisemitismus gibt. Das aber seien meist Menschen, die schon länger in Deutschland lebten. "Viele von ihnen gucken arabische Sender, in denen ein fatales Bild von Israel und Juden vermittelt" werde.

Während der Zentralratspräsident das Wirken von Klein lobte und die durch ihn erzeugte größere Wachsamkeit begrüßte, gab es von anderer Seite auch scharfe Kritik an Kleins Äußerungen, am schärfsten vom früheren Vizepräsidenten des Zentralrates, Michel Friedman. Der 63-jährige Publizist bezeichnete Kleins Warnung als "Offenbarungseid des Staates". Er erinnerte an den Grundgesetzartikel 4 zur Religionsfreiheit und betonte, offenbar versage der Staat dabei, "dies allen jüdischen Bürgern im Alltag zu ermöglichen". Friedman sprach von einem dramatischen Armutszeugnis, das auch Nichtjuden ernst nehmen müssten. "Dort, wo Juden nicht sicher und frei leben können, werden es bald auch andere nicht mehr können", sagte Friedman.

Auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) widersprach Kleins Warnung offen. "Jeder kann und soll seine Kippa tragen, egal wo und egal wann er möchte", sagte Herrmann. Die Kippa zu tragen sei elementarer Bestandteil der Religionsfreiheit. "Wenn wir vor dem Judenhass einknicken, überlassen wir rechtem Gedankengut das Feld", so Herrmann. Allerdings hatte Klein nicht die Religionsfreiheit infrage stellen wollen, sondern vor den konkreten Gefahren gewarnt, die von gewaltbereiten Antisemiten ausgehen.

Als Reaktion auf dessen Warnrufe meldeten sich am Wochenende weitere Politiker zu Wort. Bundesinnenminister Horst Seehofer erklärte, angesichts der Berichte müsse man "besorgt und wachsam" sein. "Es wäre nicht hinnehmbar, wenn Juden ihren Glauben in Deutschland verstecken müssten", so Seehofer. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul sagte, er könne Juden "nur ermutigen, sich nicht einschüchtern zu lassen". Die Polizei seines Landes stehe dabei fest an ihrer Seite. "Es darf in Deutschland nie wieder No-Go-Areas für Mitbürger jüdischen Glaubens geben", betonte Reul.

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SZ vom 27.05.2019
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