Jahresbericht der Meldestelle Rias:Fast doppelt so viele antisemitische Vorfälle

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Der Schriftzug „Nie wieder ist jetzt“ wird zum 85. Jahrestag der Pogromnacht an das Brandenburger Tor projiziert. (Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Drohungen, Körperverletzungen, Brandanschläge: 2023 gab es viel mehr judenfeindliche Angriffe als zuvor – vor allem nach dem 7. Oktober. Die Politik ist alarmiert.

Von Constanze von Bullion, Christoph Koopmann

Sie werden verprügelt. Ihnen wird mit dem Tod gedroht. Sie werden beschimpft. Das ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland die Realität, jetzt wieder veranschaulicht durch die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias). Deren Bundesverband meldet am Dienstag: knapp 4800 antisemitische Vorfälle im vergangenen Jahr. 80 Prozent mehr als 2022, also fast doppelt so viele.

Nur ein paar Beispiele, herausgegriffen aus dem soeben veröffentlichten Jahresbericht von Rias: Unbekannte werfen einen Molotowcocktail auf ein jüdisches Gemeindezentrum (das wohl eher durch Glück unbeschädigt bleibt). Zwei Männer beschimpfen einen jüdischen Israeli an einem S-Bahnhof in Berlin, bespucken, schlagen, treten ihn. In einem Brief an die Jüdische Gemeinde Freiburg schreibt jemand, bald sei „wieder Reichskristallnacht“. Und: „Auch in Freiburg werden wir das Werk der Vernichtung des Judentums fortsetzen.“

„Offenes jüdisches Leben ist seit dem 7. Oktober noch weniger möglich als zuvor.“

Vor allem seit dem 7. Oktober, seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel also und dem Beginn der heftigen Militärschläge Israels auf den Gazastreifen, ist die Zahl solcher und ähnlicher Vorfälle dem Rias-Bericht zufolge nach oben geschossen. Fast zwei Dritteln der 4800 registrierten Vorfälle des vergangenen Jahres ereigneten sich demnach zwischen dem 7. Oktober und Jahresende.

Fachleute aus Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und Sicherheitsbehörden hatten direkt danach schon gewarnt, dass der Eskalation im Nahen Osten auch eine Eskalation in Deutschland folgen würde. Sie haben recht behalten. Erst vergangene Woche hat auch der Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht für 2023 eine (weitere) Entgrenzung des Antisemitismus festgestellt, speziell seit Herbst. Auch das Bundeskriminalamt hat einen starken Anstieg bei antisemitischen Delikten seit Ausbruch des Kriegs in Gaza beobachtet.

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel bedeute eine Zäsur für Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt, sagte Benjamin Steinitz, geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands Rias, bei der Vorstellung des Berichts am Dienstagvormittag in Berlin. „Ein offenes und selbstverständliches, aber vor allem unbeschwertes jüdisches Leben ist auch in Deutschland seit dem 7. Oktober noch weniger möglich als zuvor.“

Benjamin Steinitz bei der Vorstellung des Jahresberichts. (Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Der Bericht zeige das anhand von Beispielen aus allen Lebensbereichen: im Schulalltag, in der Altenpflege, im Sport, in der Kultur, im öffentlichen Nahverkehr, auf Social Media und auch am eigenen Wohnort. „Überall werden Juden und Jüdinnen, aber auch antisemitismuskritische Stimmen bedroht und angegriffen“, sagte Steinitz. Zu verzeichnen sei eine „Normalisierung“ antisemitischer Äußerungen, auch in Universitäten, die wegen der vielen propalästinensischen Proteste gerade besonders im Blickpunkt stehen.

Am häufigsten ist „verletzendes Verhalten“

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sprach mit Blick auf den Bericht von katastrophalen Zahlen. „Jüdisches Leben ist so stark bedroht wie nie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.“

Die zivilgesellschaftlich organisierte Rias hat für den Bericht alle Meldungen ausgewertet, die entweder direkt an den Bundesverband oder die zwölf regionalen Meldestellen gingen. Unter den registrierten Vorfällen waren sieben Fälle extremer Gewalt – zum Beispiel der versuchte Brandanschlag in Berlin, dazu schwere Körperverletzungen – und 121 weitere tätliche Angriffe. Dazu kommen 329 Sachbeschädigungen, worunter auch antisemitische Schmierereien und Sticker fallen. 183 Bedrohungen zählte Rias. Der größte Teil der Vorfälle fällt in die Kategorie „verletzendes Verhalten“, nämlich etwas mehr als 4000.

Damit sind alle übrigen Arten antisemitischer Äußerungen gemeint, Beleidigungen oder Hasspostings etwa, aber auch Attacken, die nicht unbedingt strafbar sind und deshalb nicht in den BKA-Statistiken auftauchen. Es zählen auch Versammlungen, auf denen beispielsweise Israel das Existenzrecht abgesprochen wird, auf denen behauptet wird, Israel begehe einen „Holocaust“ in Gaza, auf denen Teilnehmer Dinge wie „Kindermörder Israel“ skandieren, eine Anlehnung an die uralte antisemitische Ritualmordlegende. Mehr als 800 solcher Versammlungen tauchen im Antisemitismusbericht auf, fast die Hälfte davon fand nach dem 7. Oktober statt. Ein Muster dabei: Jüdinnen und Juden auch in Deutschland werden verantwortlich gemacht für das Handeln und insbesondere die Kriegsführung der israelischen Regierung.

„Antisemitisches Gedankengut reicht von ganz links bis ganz rechts.“

Aber nicht nur bei propalästinensischen Demonstrationen oder anderen Solidaritätsbekundungen gibt es antisemitische Entgleisungen. Rias hat auch die verschwörungsideologische „Querdenker“-Szene nach wie vor im Blick, die antisemitische Erzählungen pflegt wie die von den angeblichen jüdischen Strippenziehern (George Soros, die Rothschilds) hinter einer vermeintlichen Weltverschwörung.

Längst nicht immer lassen sich die Vorfälle eindeutig einem weltanschaulichen Hintergrund zuordnen, ob sie also von rechts, links, querdenkend oder aus dem antiisraelischen Milieu kommen. Bei fast zwei Drittel der Vorfälle blieb die Motivation der Täter unklar. „Antisemitisches Gedankengut reicht von ganz links bis ganz rechts und in die Mitte der Gesellschaft hinein“, sagt Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden. Das müsse man klar benennen, um Antisemitismus wirksam bekämpfen zu können.

Dem Bericht von Rias schlossen sich die Abgeordneten von SPD, CDU, CSU, Grünen, FDP und der Linken im Bundestag mit einem gemeinsamen Statement an: „Wir verurteilen jede Anfeindung gegen Jüdinnen und Juden und setzen uns für ein selbstverständliches, sichtbares und sicheres jüdisches Leben in Deutschland ein.“ Der Kampf gegen Antisemitismus sei „für alle demokratischen Fraktionen im Bundestag eine gemeinsame Verpflichtung“. Benjamin Steinitz von Rias hofft das. Die deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle, sagt er, müsse dem Staat ein „Weckruf“ sein.

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