Max Privorozki klingt am Telefon etwas angestrengt, als man ihn erreicht, Wochen nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle. "Sie sind heute schon der fünfte Journalist, der mich sprechen möchte", sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde dort. Er fährt gerade von Magdeburg nach Halle. Die rund 550 Gemeindemitglieder würden gerne wieder zum Alltag zurückkehren und nicht immer wieder an jene furchtbaren Stunden erinnert werden am 9. Oktober - als am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur der 27 Jahre alte Stephan B. zwei Menschen getötet und ein ganzes Land geschockt hat. Dann erklärt sich Privorozki doch bereit zu reden. Solange er fährt.
Am 9. Oktober hat er im Synagogen-Vorraum zusammen mit einem Wachmann und dem Rabbiner Roman Yossel Remis auf dem Monitor der Überwachungskamera plötzlich zusehen müssen, wie eine zufällige Passantin erschossen wurde. Die Männer sahen auch, wie B. versuchte, das Schloss der Eingangstür kaputtzuschießen. Er wollte ein Blutbad unter den 51 betenden Juden anrichten.
Seit 29 Jahren lebt Privorozki in Halle. Er stammt aus Kiew, hat Mathematik studiert, seine Töchter sind in Halle zur Schule gegangen, und dem heute 56-Jährigen gelang es, die Gemeinde, der fast ausschließlich Menschen aus der früheren Sowjetunion angehören, zum Leben zu erwecken. Halle, sagt er, "war mein Zuhause".
Schon vor dem Anschlag aber habe sich ein Gefühl in ihm breitgemacht, eines, das Gäste haben in einem Land, das nicht ihres ist. "Ich beobachte mit Unruhe", sagt er, "dass in Deutschland Antisemitismus mit großer Geschwindigkeit immer krasser wird. Sich offen als Antisemit zu zeigen, ist nicht mehr peinlich." Den Anschlag auf seine Synagoge vergleicht er mit der Reichspogromnacht 1938. Will man in so einem Land noch leben? Diese Frage stellt sich Privorozki jetzt öfter.
Rabbinerin Rebecca Blady, 29, und ihr Ehemann Jeremy Borovitz, 32, auch er Rabbiner, stellen sich diese Frage nicht. Noch nicht? Erst vor einem halben Jahr sind sie in dieses Land gezogen, in dem es zum traurigen Alltag geworden ist, dass Juden angepöbelt, verprügelt, angespuckt werden. Das junge Paar aus New York hat in Berlin "Base Berlin" gegründet, eine Initiative für junge Juden aus aller Welt, die voneinander lernen und jüdische Werte vermitteln möchten. In den letzten Wochen haben sie viel Kraft aufwenden müssen, um wieder in ihren Alltag zurückzufinden. Die beiden sind vor allem froh, dem Tod entronnen zu sein - denn Blady und Borovitz waren in der Hallenser Synagoge, als Stephan B. versuchte, dort ein Massaker anzurichten. Zusammen mit anderen jungen Juden hatten sie die Idee gehabt, Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, das Fest der Versöhnung, in der Synagoge von Halle zu verbringen.
Ihre einjährige Tochter hatten Blady und Borovitz einer Tagesmutter anvertraut, die mit ihr draußen spazieren ging. Gebete an Jom Kippur ziehen sich über Stunden hin, das ist nichts für unsere Tochter, hatten Blady und Borovitz sich gedacht. Als sie Explosionen und Schüsse hörten, dachten sie zuerst an ihre Tochter.
Im Gebetsraum brach Panik aus. Gemeindevorsteher Privorozki schrie, alle Betenden sollten sich in die oberen Räume der Synagoge begeben. Eine Küche gibt es dort oben, auch ein Gästezimmer für Rabbiner Remis, der dreimal in der Woche von Berlin nach Halle kommt, in die kleine Gemeinde, die sich den Rabbiner mit einer noch kleineren teilt. Im Schlafraum des Rabbiners knoteten die verängstigten Synagogenbesucher Laken aneinander - für den Fall, dass sie sich aus der Synagoge abseilen müssten. Manche schrieben auf ihren Handys Nachrichten an ihre Liebsten - und verabschiedeten sich. "Wir waren sicher", sagt Borovitz, "dass wir das nicht überleben würden."
Solange der Attentäter nicht gefasst war, mussten die Besucher in der Synagoge bleiben. So beteten sie weiter, mit aller Kraft, dankbar, am Leben geblieben zu sein. Für Rebecca Blady waren diese Stunden aber auch qualvoll, sie wollte bei ihrer Tochter sein. "Wir waren alle im Schock", erzählt sie. Mit jedem Tag, den das Attentat zurückliegt, werde ihr bewusster, dass der Anschlag ein noch viel blutigeres Ende hätte nehmen können. "Wir sind vor allem sehr, sehr dankbar, dass wir am Leben sind", sagt sie. "Und sehr, sehr traurig, dass zwei Menschen getötet wurden."
Hat sich ihr Bild von Deutschland geändert? Nein, sagt sie. "Ich bin ja nicht naiv. Ich habe in der kurzen Zeit, in der ich jetzt hier lebe, verstanden, dass in Deutschland Antisemitismus, Hass und Gewalt gegen Juden zunehmen." Bereut sie den Umzug nach Berlin? Nein. "Niemand wird mich oder meine Familie davon abhalten können, in eine Synagoge zu gehen zum Beten."
Vor der Synagoge in Halle steht seit dem Anschlag jetzt rund um die Uhr ein Polizeiauto und auch eine kleine mobile Wache. Rebecca Blady und ihr Mann hatten sich am 9. Oktober noch gewundert, dass keine Polizei den Eingang gesichert hatte. Aber man hatte sie beruhigt, das sei eben Halle, ein sicherer Ort für Juden.
Sicher? Max Privorozki ist froh, dass jetzt in ganz Deutschland die Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen einheitlich verschärft werden. "Dass wir Juden geschützt werden müssen", sagt er, "ist nicht normal, aber man lebt damit." Es sei aber auch "traurig, wenn man als Jude in Deutschland den Alltag hinter Gittern und Schutzmauern verbringen muss".
In letzter Zeit hat er Gedanken wie diesen: "Langsam überlegt man, ob es nicht auch andere Orte gibt auf unserem Planeten, wo wir Juden leben sollten." Orte wie Israel etwa. Wenn jetzt keine Maßnahmen gegen Antisemitismus und Judenhass ergriffen würden, bezweifelt er, ob die jüdische Gemeinschaft in Deutschland "überhaupt noch eine Zukunft hat". Auch Privorozki hat schon mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern, schon vor dem Anschlag: "Ich lebe seit 29 Jahren hier, und die meiste Zeit habe ich mich in Deutschland zu Hause gefühlt. Aber seit ein paar Jahren eben nicht mehr."