Süddeutsche Zeitung

Kolumne:Der neue Judenhass ähnelt dem alten

Es darf nicht sein, dass Juden in Deutschland nun auch auf der Straße wieder Angst haben müssen. Nicht nur der Staat muss dagegen einschreiten. Gefragt sind wir alle.

Gastbeitrag von Norbert Frei

Der Begriff ist etwa 140 Jahre alt, die Sache selbst viel älter. Antisemitismus gab es, längst ehe Wilhelm Marr dem jungen deutschen Kaiserreich den "Sieg des Judenthums über das Germanenthum" prophezeite - wie heute die Rechten der Bundesrepublik den "Bevölkerungsaustausch". Und wie damals sind die geheimen Mächte, die angeblich das Ende Deutschlands und des "abendländischen" Europas planen, im Zweifelsfall natürlich Juden.

Verschwörungstheorien und "Erkenntnisse" wie die des irrlichternden Journalisten Marr wurden um die vorletzte Jahrhundertwende populär. Sie haben der christlichen Judenfeindschaft jenen Dreh gegeben, der zwar nicht geradewegs, aber doch mit ziemlicher Konsequenz in den Holocaust führte. Denn mit der Idee des Rassenantisemitismus war das fürchterliche "Faktum" in der Welt, dass die Juden biologisch anders seien als die "Arier". In der Logik dieses neuen, bald "wissenschaftlich" untermauerten Antisemitismus machte auch die Taufe aus einem Juden keinen Christenmenschen mehr.

Nach Hitler wussten dann schlagartig fast alle Deutschen, dass gerade eine Zeit des "Rassenwahns" zu Ende gegangen war. Wer daran festhielt, galt als "Ewiggestriger" und wurde von der auf das Ansehen der jungen Republik bedachten neuen politischen Klasse gleichsam wegdefiniert. So im September 1949 von Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung: "Wir halten es für unwürdig und für an sich unglaublich, dass nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollten, die Juden deswegen verfolgen oder verachten, weil sie Juden sind."

Doch von derlei Wunschdenken - in Wahrheit hatte der Kanzler keine Illusionen - ließen harte Antisemiten sich nicht beeindrucken. "Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen", meinte nur Wochen später im "Deutschen Haus" zu Einfeld Wolfgang Hedler, der für die Deutsche Partei im Bundestag saß. Als der einstige Stahlhelm-Mann und Alt-Parteigenosse nach einem ersten Freispruch vor Gericht wieder in Bonn auftauchte, drängten ihn ein paar Sozialdemokraten, angeführt von Herbert Wehner, unter körperlichem Einsatz aus dem Parlament. Wenigstens im zweiten Anlauf wurde Hedler, der sich auch über die Widerständler des 20. Juli 1944 abfällig geäußert hatte, wegen "öffentlicher Beleidigung in Tateinheit mit öffentlicher Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener" zu neun Monaten Gefängnis verurteilt.

Den mehr oder weniger latenten Antisemitismus in einer Gesellschaft, die in vielem noch eine postnationalsozialistische Volksgemeinschaft war, vermochte ein Gerichtsurteil nicht zu beseitigen. Aber auf Dauer half es, dass Bonn in diesen Jahren auf neuen politischen und strafrechtlichen Normen insistierte. Anfang der Fünfziger war noch reichlich ein Drittel der Bundesbürger der Überzeugung, es sei "besser, keine Juden im Land zu haben". Eine Dekade später glaubten das "nur" noch 18 Prozent. Vor allem aber machte Hoffnung: Mehr als doppelt so viele verneinten diese Ansicht jetzt.

Die Antisemitismusforschung weiß seit Langem, dass Antisemiten keine Juden brauchen, um Gefühle der Abneigung und des Hasses zu produzieren. Auch deshalb unterscheidet sie zwischen "primärem" und "sekundärem" Antisemitismus und versucht, legitime Kritik (etwa an der Siedlungspolitik der israelischen Regierung) von antisemitischer "Israelkritik" zu trennen. In diesen Tagen allerdings gewinnt man den Eindruck, dass klare Worte nach allen Seiten mindestens so wichtig sind wie pädagogische Bemühungen, die Motive der heutigen Antisemiten zu verstehen. Letztere sind nicht so kompliziert, wie mancher meint.

Dass junge Muslime, seien sie in Deutschland geboren oder erst vor Kurzem als Flüchtlinge aus Ländern gekommen, in denen Antisemitismus gewissermaßen Staatsdoktrin ist, Gleichaltrige angreifen, die eine Kippa tragen (und sei es, wie neulich in Berlin, um das damit verbundene Risiko zu testen), darf nicht hingenommen werden. Nicht weniger unerträglich aber ist die Heuchelei jener alten und (vermeintlich) neuen Rechten, die sich als Verteidiger eines christlich-jüdischen Kulturerbes aufschwingen, aber nur die Demütigung von "Kopftuchmädchen" und die Ausweisung von "Kameltreibern" im Sinn haben.

Mühsam zwar und unter Rückschlägen auch aus zunächst unvermuteter Ecke - man denke etwa an den Judenhass der terroristischen Linken in den Siebzigern -, ist es der alten Bundesrepublik im Laufe der Jahrzehnte gelungen, den Antisemitismus mit jenem gesellschaftlichen Stigma zu belegen, das ihm gebührt. Daran gilt es festzuhalten, auch unter demografisch komplizierter gewordenen Verhältnissen. Dass jüdische Einrichtungen in Deutschland nach wie vor gesichert werden müssen wie Gefängnisse, ist traurig genug. Es darf nicht sein, dass Juden auch auf der Straße wieder Angst haben müssen wie 1931 auf dem Kurfürstendamm in Berlin - also zu Zeiten von Rechtsstaat und Demokratie -, als junge Männer in braunen Hemden jüdische Passanten attackierten.

Auf den neu ernannten Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung kommt eine Menge Arbeit zu. Aber gefragt sind wir alle. Denn gesellschaftliche Normen erodieren, wenn Gesellschaften gleichgültig sind - zum Beispiel gegenüber Texten von Rappern, die Jugendliche glauben lassen, dass Hass auf Juden in Ordnung sei.

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SZ vom 28.04.2018/kjan
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