Mindestens 290 Berliner Straßen oder Plätze weisen in ihren Namen antisemitische Bezüge auf. "Diese hohe Zahl hat mich schon erstaunt", erklärte der Leipziger Politologe Felix Sassmannshausen, der seine Studie im Auftrag der Senatsverwaltung für Justiz und Antidiskriminierung am Montag präsentierte. Ein halbes Jahr sei er den Namensgebern der gut 10 500 Straßen und Plätze in der Hauptstadt nachgegangen. "Das Dossier ist als Ausgangspunkt zu betrachten", sagt er - für weitere Debatten.
In allen zwölf Bezirken der Stadt hat Sassmannshausen fragwürdige Benennungen gefunden. Darunter so bekannte Straßen wie die Bismarckstraße, benannt nach dem ersten Reichskanzler des Deutschen Reiches, der eng verbandelt war mit Führungsfiguren antisemitischer Bewegungen. Als klar antisemistisch wird auch die Benennung der Martin-Luther-Straße gewertet, der Theologe "war prägend für die weite Verbreitung des christlich motivierten Antijudaismus". Dasselbe gilt für die Straße unter Luthers Decknamen Junker Jörg.
Der größere Teil der inkriminierten Namen sind im Westen Berlins zu finden. Das habe auch damit zu tun, dass auffallend viele aus der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik stammten, sagt der Studienautor. Antisemitismus sei in diesen Epochen nicht unbedingt "ein individuelles Problem, sondern ein Alltagsproblem" gewesen. Je nachdem wie ausgeprägt der Antisemitismus des Namensgebers gewesen sei, gibt Sassmannshausen Handlungsempfehlungen. Das beginnt von zusätzlicher Forschung (Pestalozzistraße) über das Aufstellen erklärender Tafeln (Eitelstraße) bis zur Umbenennung (Richard-Wagner-Platz).
Nicht jeder Straßenname ist zeitlos
Samuel Salzborn, der die Studie für den Berliner Senat beauftragt hatte, wies auf die teils heftigen Debatten über Umbenennungen von Straßen und Plätzen mit kolonialen Bezügen hin. Es sei notwendig, das Thema um die antisemitischen Bezüge im Straßenbild der Hauptstadt zu erweitern und zu vertiefen, sagte Salzborn. Eine Änderung im Straßengesetz vom vergangenen Dezember ermöglicht nun einzugreifen - dann nämlich, wenn Namen "nach heutigem Demokratieverständnis negativ belastet sind und die Beibehaltung dem Ansehen Berlins schaden würde". Neben den regelmäßigen exemplarischen Diskussionen "war es mir nun wichtig, eine systematische Grundlage zu schaffen", sagte Salzborn.
Berlin agiere hierbei ganz im Sinne des Deutschen Städtetages. Der habe festgestellt, Straßennamen seien "hohe Formen der Ehrung", spiegelten aber immer auch den Zeitgeist wider. "Sie unterliegen dem gesellschaftlichen Diskurs", sagte Salzborn. Deshalb tue man gut daran, regelmäßig zu prüfen, ob sie noch zeitgemäß seien.