„Rias“-Meldestellen berichtenExtremer Anstieg bei antisemitischen Vorfällen

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Juden in Deutschland, wie hier in Berlin, sind immer häufiger Anfeindungen ausgesetzt.
Juden in Deutschland, wie hier in Berlin, sind immer häufiger Anfeindungen ausgesetzt. (Foto: Hannes P Albert/Hannes P Albert/dpa)

Die Meldestellen für Antisemitismus in Deutschland zählen mehr als 8600 einschlägige Vorfälle im vergangenen Jahr. Über 75 Prozent mehr als 2023. Einer der Hauptgründe: der Krieg in Gaza.

Von Christoph Koopmann

Die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland steigt stark an. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) hat im vergangenen Jahr 8627 Vorkommnisse verzeichnet. Das hat die Nichtregierungsorganisation am Mittwoch bekannt gegeben. Demnach ist die Zahl antisemitischer Vorfälle im Vergleich zu 2023 um mehr als drei Viertel gestiegen. Damals hatte Rias 4886 Übergriffe gemeldet.

Als einen der Hauptgründe für den Anstieg nennen die Fachleute den Krieg in Gaza. Die Reaktionen auf das Geschehen in Nahost hätten einen „maßgeblichen Einfluss“ auf die Ereignisse in Deutschland, heißt es in dem Bericht. Der Beauftragte der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, sprach von „schockierenden Zahlen“. „Judenhass ist in Deutschland mittlerweile so stark verbreitet, wie wir es uns noch vor wenigen Jahren nicht vorstellen wollten“, sagte Klein.

Die Zahlen, die Rias nun vermeldet, liegen höher als diejenigen, die das Bundeskriminalamt (BKA) vor gut zwei Wochen in seinem Lagebild zur politisch motivierten Kriminalität präsentiert hat. Das BKA zählte im vergangenen Jahr 6236 antisemitische Straftaten. Der Unterschied liegt vor allem darin begründet, dass Rias auch Fälle unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit erfasst und dass nicht jeder Übergriff bei der Polizei zur Anzeige gebracht wird. Im Bundesverband Rias sind Meldestellen aus elf Bundesländern organisiert. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) sagte am Mittwoch, das BKA-Lagebild und der Rias-Bericht ergäben ein „bedrohliches Bild“. „Unsere Sicherheitsbehörden sind äußerst wachsam und gehen gegen antisemitische Straftaten entschlossen vor“, sagte Dobrindt.

Solingen, München, Berlin, Oldenburg

Unter den mehr als 8600 Vorkommnissen aus dem Rias-Jahresbericht sind acht Fälle „extremer Gewalt“, also solche, bei denen Leib und Leben von Menschen gefährdet waren. Dazu zählen die Rechercheure auch den mutmaßlich islamistischen Anschlag auf ein Stadtfest in Solingen im August mit drei Toten. Der geständige Tatverdächtige hatte sich in einem Bekennervideo auch auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas bezogen. Genauso wird in dem Rias-Bericht das Attentat auf das NS-Dokumentationszentrum in München im September aufgeführt.

Auch den Überfall auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira in Berlin im Februar 2024 zählt Rias als Fall extremer Gewalt. Ein Kommilitone hatte Shapira vor einer Bar krankenhausreif geprügelt. Das Gericht verurteilte den Täter im April zu drei Jahren Haft; auch, weil die Richter ein antisemitisches Motiv sahen.

Ebenso listet Rias einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Oldenburg im April 2024 auf. Damals hatte ein Mann einen Brandsatz auf das Gebäude geworfen. Das Feuer konnte gelöscht werden, bevor Schaden entstand. Staatsanwaltschaft und Polizei gehen inzwischen jedoch davon aus, dass die Tat keinen politischen Hintergrund gehabt habe. Der Beschuldigte sei psychisch krank.

Neben diesen Extremfällen hat Rias 186 weitere physische Angriffe erfasst, 300 Bedrohungen, 443 gezielte Sachbeschädigungen und 176 „Massenzuschriften“. Als solche bezeichnet Rias antisemitische Mails oder Briefe an einen großen Empfängerkreis, die gezielt auch Vertretern jüdischer Institutionen, der Presse oder Behörden geschickt werden. Den größten Teil der Statistik machen mit 7514 Fällen solche des „verletzenden Verhaltens“ aus. Die Definition von Rias dafür ist weit: von Schmierereien mit den Worten „Juden raus“ und Hakenkreuz über judenfeindliche Gesänge von Fußballfans bis zu ganzen Demonstrationen, auf denen Teilnehmende beispielsweise Juden diffamieren oder den Gaza-Krieg mit dem Holocaust gleichsetzen.

Unterschiedliche Hintergründe

Als Antisemitismus wertet Rias zum einen, wenn Juden wegen ihres Jüdischseins beschimpft, bedroht oder angegriffen werden. Aber auch sogenannter israelbezogener Antisemitismus zählt für Rias dazu, wenn man etwa in Deutschland lebende Juden für das Handeln des Staates Israel verantwortlich macht. Oder wenn typisch antisemitische Erzählungen bedient werden, etwa die von angeblichen jüdischen „Kindermördern“.

Die Hintergründe der Taten sind unterschiedlich. Knapp ein Viertel der bei den Meldestellen registrierten Vorfälle aus dem Jahr 2024 ordnet Rias dem antiisraelischen Aktivismus zu (2282 Taten), sechs Prozent seien rechtsextrem oder rechtspopulistisch motiviert gewesen (544). Vier Prozent (347 Fälle) hatten laut Rias einen politisch linken Hintergrund, drei Prozent (243) einen verschwörungsideologischen und zwei Prozent (143) einen islamischen oder islamistischen. Beim größeren Teil der Vorkommnisse, nämlich bei 57 Prozent (4880 Fälle), blieb der Hintergrund unklar. Meist, weil die Täter unbekannt sind.

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