Süddeutsche Zeitung

Antisemitismus:Angriff auf die Identität

Die Warnung an Kippa-Träger trifft einen schmerzhaften Nerv.

Von Matthias Drobinski

Antisemitismusbeauftragte warnen vor Antisemitismus, das ist ihre Aufgabe. Weil dies so vorhersehbar ist, gibt es immer wieder Zweifel am Sinn des Amtes: Hört überhaupt noch einer zu, wenn der Beauftragte mal wieder vorm Judenhass warnt? Felix Kleins Satz, er könne Juden "nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen", weil es im Land eine zunehmende "Enthemmung und Verrohung" gebe, hat jedenfalls zum Glück seine Hörer gefunden; er hat einen Nerv getroffen. Was oft eine schnell geschriebene Floskel ist, stimmt hier im Wortsinn: Einen Nerv zu treffen, tut übel weh.

Es ist an manchen Orten in Deutschland für Juden gefährlich geworden, die eigene Religion offen sichtbar zu leben; es ist insgesamt schwierig geworden, sich zum Judentum zu bekennen, ohne mit Vorurteilen und Stereotypen konfrontiert zu sein, ohne Ablehnung und auch offenen Hass zu erfahren. Es gibt in den großen Städten Straßenzüge, wo, wer eine Kippa trägt, fürchten muss, von arabisch- oder türkischstämmigen Jungs bespuckt und attackiert zu werden. Es gibt weit darüber hinaus die Tendenz, "die Juden" für den Nahostkonflikt verantwortlich zu machen, sie als kriegslüstern hinzustellen und als neue Nazis; dies findet seine Nahrung auch in linken Kreisen. Es gibt schließlich den schlechten, alten Traditionsantisemitismus vom weltbeherrschenden Finanzjuden, es gibt den Geschichtsrevisionismus der Rechten, wonach die Juden mit ihrem ständigen Jammern über die Schoah die gute deutsche Identität kaputtmachten.

All das mischt und beschleunigt sich in den verschiedenen Selbstbestätigungsgemeinschaften im Netz, mal eingewoben ins große Feinbild von "dem Westen", mal angereichert mit Islamfeindschaft, Rassismus und dem Hass auf alles, was fremd erscheint. Im vergangenen Jahr zählte die Polizei 1799 angezeigte antisemitische Straftaten, fast 20 Prozent mehr als 2017, die meisten verübt im rechten Milieu. Für viele Juden in Deutschland ist das mehr als nur ein Anlass zum Zorn. Es wächst die Angst, dass der Gründungskonsens der Bundesrepublik brüchig werden könnte, dass der Hass auf Juden keinen Platz mehr haben dürfe im öffentlichen Raum und im politischen Leben.

Kann man in Deutschland die Kippa nicht mehr tragen? Die Frage verursacht Schmerzen

Deshalb ist die Warnung, besser nicht jederzeit und überall mit Kippa herumzulaufen, nicht nur eine Sache für Felix Klein, den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Sie trifft, und deshalb schmerzt sie so, das Versprechen der Bundesrepublik, aus dem Judenmord und dem Rassismus der Nazis gelernt zu haben. Sie berührt die Garantie, dass jede Frau und jeder Mann frei, offen und unbehelligt seinen Glauben leben, seine Meinung sagen, seine sexuelle Orientierung zeigen kann - als kippatragender Mann wie als Frau mit muslimischem Kopftuch, die beschimpft wird, ohne dass ein Beauftragter Alarm schlägt; als homosexuelles Paar, das sich auf dem Gehsteig küsst, wie als katholische Nonne, die dort den Rosenkranz betet.

Der Kampf gegen den Antisemitismus geht alle an, weil der Antisemitismus die Freiheit aller berührt, weil er die bundesrepublikanische Identität zerstören will, die da in 70 Jahren gewachsen ist. Deshalb darf es keine No-go-Areas für Juden geben, wo sie um ihre körperliche wie seelische Unversehrtheit fürchten müssen: nicht in den Großstädten, nicht im Netz, nicht in der politischen Debatte.

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Quelle:
SZ vom 27.05.2019
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