Antisemitischer Überfall:Juden in Deutschland erleben bedrohliches Klima

Drei Männer greifen in Berlin zwei Männer mit Kippa an. Nur einer von vielen Fällen, die zeigen: Antisemitismus ist weit verbreitet.

Von Hannah Beitzer, Berlin

18 antisemitische Angriffe. Das heißt: 18 Mal anrempeln, stoßen oder Flaschen werfen. 23 Bedrohungen. 42 Sachbeschädigungen. 679 Fälle von verletzendem Verhalten. Das heißt: antisemitische Flyer, Aufkleber, Schmierereien. 185 Fälle von Massenpropaganda, die meisten davon per E-Mail. Diese Zahlen veröffentlicht die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS), just an dem Tag, an dem ein Video eines weiteren antisemitischen Angriffs in der Hauptstadt für Entsetzen sorgt.

Im bürgerlichen Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg haben in der Nacht zu Dienstag drei Männer einen 21-Jährigen und einen 24-Jährigen angegriffen und beschimpft. Ein Angreifer schlug mit einem Gürtel auf den 21-Jährigen ein, dabei rief er das arabische Wort für Jude: Jahudi. Das Opfer trug eine Kippa. Und filmte den Angriff. Inzwischen hat der Staatsschutz Ermittlungen aufgenommen. Der attackierte Mann sagte in einem Interview mit der Deutschen Welle, dass er kein Jude, sondern in Israel bei einer arabischen Familie aufgewachsen sei. Die Kippa habe er als Experiment getragen, um zu zeigen, "wie schrecklich es ist, in diesen Tagen als Jude durch Berlins Straßen zu laufen."

Die Zahl der Vorfälle steigt seit Jahren

Der Fall ist keine Ausnahme, wie die Zahlen von RIAS zeigen. Seit 2015 gibt es die Berliner Informationsstelle, bei der Menschen antisemitische Vorfälle melden können. Ihr neuester Bericht zeigt: Die Zahlen steigen. 2016 verzeichnete RIAS 590 Vorfälle. 2017 waren es 947. Das habe zum einen damit zu tun, dass RIAS inzwischen bekannter sei, sagt deren Leiter Benjamin Steinitz - und das nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch bei vielen jüdischen Organisationen und Institutionen, die für die Recherchestelle ein wichtiges Netzwerk sind.

"Außerdem haben unserem Eindruck nach auch die Fälle von Antisemitismus, die zuletzt an die Öffentlichkeit gelangten und breit diskutiert wurden, zu einer größeren Bereitschaft der Betroffenen geführt, sich zu melden", sagt Steinitz. Dennoch betont die Recherchestelle in ihrem Bericht: Sie könne nicht ausschließen, dass es 2017 jenseits dieser Effekte tatsächlich zu einem absoluten Anstieg von Fällen gekommen sei.

Auch die Berliner Polizei verzeichnet seit Jahren steigende Zahlen. 2013 registrierte sie 149 antisemitische Vorfälle, 2017 bereits 288. Dass die Zahlen von RIAS so viel höher sind, liegt unter anderem daran, dass RIAS bewusst auch Vorfälle aufzeichnet, die keinen Straftatbestand erfüllen. Die Informationsstelle berichtet etwa vom Fall einer siebenjährigen Grundschülerin, die nach den Ferien von ihrer Israelreise erzählte - was ihre Lehrerin einzig mit dem Satz kommentierte, es sei wichtig, den anderen Kindern zu sagen, dass "die Juden den Palästinensern ihr Land weggenommen" hätten.

Schon Kinder müssen sich rechtfertigen, Juden zu sein

"Gerade diese niedrigschwelligen Vorfälle prägen in ihrer Vielzahl den Alltag von Jüdinnen und Juden, entfalten ein bedrohliches Klima und beeinträchtigen die Lebensqualität jüdischer Gemeinschaften Berlins", sagt Steinitz. Sie führten dazu, dass bereits Kinder ihre Identität als etwas wahrnähmen, wofür sie sich rechtfertigen müssen. "So überlegen sich viele Jüdinnen und Juden andauernd, in welchem Kontext sie sich überhaupt zu erkennen geben", sagt Steinitz. Antisemitismus als ständiges Grundrauschen.

Dazu kommt: Selbst die strafrechtlich relevanten Fälle gelangen nicht unbedingt zur Anzeige - und damit ins Blickfeld der Polizei. "Viele Menschen, mit denen wir sprechen, können schlicht nicht einschätzen, wann ein Vorfall überhaupt strafrechtlich relevant ist", sagt Steinitz. Hier versucht die Recherchestelle, die Betroffenen auf ihrem Weg zur Anzeige zu begleiten.

In den vergangenen Monaten sind Fälle an die Öffentlichkeit gelangt, die die Aufmerksamkeit für Antisemitismus in Deutschland wachsen lassen. Zum Beispiel der Fall eines jüdischen Schülers aus dem Stadtteil Friedenau, der von arabisch- und türkischstämmigen Mitschülern über Monate gemobbt wurde und schließlich die Schule wechselte. Oder der Fall eines jüdischen Gastwirts, den ein Passant vor seinem Restaurant unflätig beschimpfte. Auch er stellte ein Video davon ins Netz. Im Laufe der sechsminütigen Tirade sagt der Passant: "Niemand schützt euch, ihr werdet alle in der Gaskammer landen." In diesem Fall war der Täter ein Deutscher ohne Migrationshintergrund.

Wer sind die Täter?

Die Frage nach der Herkunft der Täter ist eine, die in Deutschland zur Zeit besonders hitzig diskutiert wird. "Wir dürfen die Augen vor dem immer häufiger auftretenden Antisemitismus in Teilen der arabischen und muslimischen Community nicht verschließen", sagt etwa Deidra Berger, Direktorin des AJC Berlin Ramer Institute for German-Jewish Relations, über den jüngsten Angriff in Berlin. "Dieser Vorfall reiht sich ein in eine lange Liste von Übergriffen, die nicht selten einen muslimischen Täter-Hintergrund haben."

Dagegen steht ihr zufolge eine bundesweite Polizeistatistik, die den Antisemitismus zu 95 Prozent dem Rechtsextremismus zuordne. Obgleich laut einer wissenschaftlichen Untersuchung im Auftrag des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus 80 Prozent der Betroffenen antisemitischer Gewalt angaben, die Täter hätten einen "muslimischen" Hintergrund gehabt. Die von Berger erwähnte Expertengruppe erklärt in ihrem Bericht, dass es für diese Diskrepanz zwischen polizeilicher Statistik und Erlebtem derzeit keine befriedigende Erklärung gebe.

Auch für die RIAS ist die Zuordnung der Täter oft schwer. Liegt ein rechtsextremer Hintergrund vor - oder eine sich anti-imperialistisch gebende Verschwörungstheorie? Oder handelt es sich um "muslimischen" Antisemitismus? "In einigen Fällen lässt sich die Herkunft der Täter zum Beispiel aufgrund der Sprache zuordnen", sagt Steinitz. So zum Beispiel im jüngsten Fall, der sich im Prenzlauer Berg abspielte.

Den Täter zuzuordnen, ist oft schwer

Nur weil ein Täter aber arabisch spreche, könne man noch nicht automatisch von "muslimischem", also religiös geprägtem Antisemitismus sprechen, sagt Steinitz. Genauso gut könnte ein anti-israelisches Motiv vorliegen. "Auch die Betroffenen, mit denen wir sprechen, sind sehr vorsichtig mit ihren Zuschreibungen." Bei vielen Vorfällen - zum Beispiel Schmierereien oder antisemitischen Flyern - bleibt der Täter ganz im Verborgenen.

Dennoch sieht Steinitz Fortschritte im Umgang mit dem Thema. Er lobt etwa, dass die Bundesregierung einen Antisemitismusbeauftragten benannt hat: den ehemaligen Diplomaten Felix Klein. Ebenso, dass nach den jüngsten Antisemitismus-Vorfällen viele Politiker öffentlich ihre Solidarität mit den Opfern bekundeten. "Das sind ganz wichtige Signale", sagt Steinitz. Signale, denen jedoch Taten folgen müssten. Zum Beispiel Instrumente, die es besser ermöglichten, Antisemitismus in ganz Deutschland systematisch zu erfassen und aufzuarbeiten. Dabei müssten Bundes- und Länderbehörden sowie Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten.

Eine große Baustelle jedoch bleibe: "Während von offizieller Seite Antisemitismus zunehmend in den Fokus rückt, erleben viele Betroffene im Alltag nach wie vor eine Bagatellisierung ihrer Probleme", sagt Steinitz. Als Beispiel nennt er Antisemitismus an Schulen: "Hilflosigkeit ist vielleicht das Wort, das die Reaktionen der Schulen am besten beschreibt", sagt Steinitz. Eine Hilflosigkeit, die dazu führt, dass das Grundrauschen des Antisemitismus trotz aller öffentlichen Empörung bestehen bleibt.

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