Süddeutsche Zeitung

Anti-EU-Stimmung in Großbritannien:Vom schweren Leben als Europa-Fan auf der Insel

"Eine fremde Institution, die unsere Unternehmen gängelt": Viele Briten halten wenig von der EU und fordern einen Austritt ihres Landes. Den Europaskeptikern nutzt dabei, dass die Medien ihre Parolen nicht enttarnen und weiter Vorurteile verbreiten.

Ein Gastbeitrag von Mathew Shearman

Im Spaß habe ich mal zu einem Freund aus Deutschland gesagt, dass ich "wahrscheinlich der letzte britische Europäer" bin. Diese Bemerkung aus dem Jahr 2009 könnte ich heute so nicht wiederholen, da die Leute denken würden, dass ich mit meinen proeuropäischen und föderalistischen Ansichten den Bezug zu britischen Positionen verloren habe. Selbst politisch interessierte Freunde lachen, wenn ich europapolitische Themen anspreche, als hätte ich zu lange Pariser Luft eingeatmet und wäre mit einem seltsamen, esoterischen Interesse zurückgekehrt.

Heute verwende ich stattdessen einen erfundenen Ausdruck und sage, dass ich "euro-interessiert" bin, um mich von verkürzten Definitionen und schlecht informierten Diskussionen abzusetzen, die eine Debatte über die EU in Großbritannien verhindern. Auch wenn ein Referendum erst in einigen Jahren ansteht, kristallisiert sich heraus, dass es nur zwei Arten gibt, über Europa zu sprechen - Austritt oder Verbleib.

Der Kern des britischen Argwohns gegenüber der EU liegt darin, dass man sie als unnötigen, bürokratischen Angriff auf die englische Souveränität empfindet. Die allgemeine Antwort, die europäische Einigung habe dem Kontinent "Frieden und Wohlstand" gebracht, gilt in einem Land, das sich als Garant für Frieden in Europa sieht, nicht viel. Stattdessen wird die EU als "fremde" Erfindung wahrgenommen, die Joghurt und Käse beim Mittagessen in den Schulen verbietet und britische Unternehmen gängelt. Bei dieser Wahrnehmung der EU ist es nicht verwunderlich, dass in Großbritannien über den Austritt statt über die Zukunft Europas diskutiert wird, wie das im übrigen Europa der Fall ist.

Seit Januar 2013 besteht die Strategie von David Cameron darin, ein Referendum "bis spätestens 2017" zu versprechen und sich für einen Verbleib in der EU auszusprechen, wenn es zugleich Reformen gibt. Auf die jüngste Aufforderung aus Berliner Politikkreisen, zu sagen, "was wir wollen", kann ich nur antworten, dass Premierminister Cameron noch die entscheidenden Zugeständnisse finden muss, die die Briten überzeugen würden, für einen Verbleib in der EU zu stimmen. Ich befürchte, dass es auf einen verhandelten Austritt hinauslaufen wird.

Eine ausgewogene Debatte über Europa ist unmöglich

Die Rede von Angela Merkel im britischen Parlament wird wahrscheinlich als letzte proeuropäische Rede in Erinnerung bleiben, die in diesem prachtvollen Gebäude gehalten wurde. Doch sie hat auch nicht dazu beigetragen, eine ausgewogene Debatte über die EU zu ermöglichen. Merkels Warnung, dass diejenigen, die von ihr erwarteten, den "Weg für eine grundlegende EU-Reform auf Basis britischer Wünsche" zu ebnen, "enttäuscht sein werden", lieferte den Journalisten den erforderlichen Beleg, Camerons Werben für einen Verbleib in der EU als Totgeburt zu bezeichnen.

In einem Leitartikel der Daily Mail hieß es, dass "mit deprimierender Vorhersagbarkeit ... die schamlos föderalistische Frau Merkel Plattitüden über Reformen abgeliefert hat." Der Economist schrieb, Camerons Strategie sei auf die Unterstützung von wichtigen Verbündeten wie Deutschland, Frankreich, die Niederlande oder Polen angewiesen, um eine grundlegende Reform durch multilaterale Verhandlungen zu garantieren.

Die jüngsten Umfragen im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2014 sagen voraus, dass die britische Unabhängigkeitspartei (UKIP) auf 20 Prozent der Stimmen käme und damit zweitstärkste Kraft hinter Labour würde. Damit wäre sie auch stärker als die beiden derzeitigen Regierungsparteien. Schon bei der Europawahl 2009 bekam UKIP mehr Stimmen als Labour, die damalige Regierungspartei. Nach guten Ergebnissen in den jüngsten Kommunalwahlen verschärfen die Wahlerfolge der UKIP die Meinungsverschiedenheiten in Premierminister Camerons konservativer Partei, vor allem unter denen, die einen EU-Austritt zur zentralen Frage des britischen Nationalinteresses erhoben haben.

Politisch hat es die UKIP geschafft, die großen Parteien in die Ecke zu drängen und sich selbst als populistische Partei zu positionieren, die die "wahren" Gefühle zu vielen Themen vertrete. Das Thema Europa rangiert in der Tat relativ niedrig auf der politischen Prioritätenliste der Menschen, hinter Zuwanderung, der wirtschaftlichen Lage und der Arbeitslosigkeit.

UKIP-Parteichef Nigel Farage bedient sich eines raffinierten politischen Tricks: Er benutzt wichtige und für die Menschen interessante Themen wie etwa die Zuwanderung als Plattform für seine Argumentation, dass die Politiker der etablierten Parteien eine "politische Klasse sind, die sich an Brüssel verkauft hat." So könne man beispielsweise nicht die Grenzen Großbritanniens sichern, wenn die EU das Recht auf Freizügigkeit aufrechterhalte. Mit dieser heuristischen Methode wettert die UKIP gegen die EU nicht auf Basis detaillierter und informierter Argumente, sondern indem sie an das Gefühl der sozialen und wirtschaftlichen Ablehnung appelliert, das in weiten Teilen der Gesellschaft zu finden ist.

Die wenigen verbliebenen Proeuropäer in Großbritannien haben der UKIP noch nicht den Kampf angesagt und ein "fauler Journalismus" fördert das Nichtwissen in der Bevölkerung. Die Liberaldemokraten als Junior-Koalitionspartner positionieren sich als Europafreunde, sind aber damit in ihren eigenen Reihen unpopulär. Labour hat Forderungen nach einem frühen EU-Referendum zurückgewiesen, doch die wenigsten hören richtig hin. Zu lange haben Fehlinformationen und das Schüren von Ängsten durch die Boulevardmedien die öffentliche Wahrnehmung von Europa dominiert.

Die im Januar 2014 vernehmbare Aufregung über den "Strom" rumänischer und bulgarischer Einwanderer nach Großbritannien, der so nie eingetreten ist, zeigt exemplarisch die Herausforderungen, vor denen diejenigen stehen, die sich gegen einen "Brexit" aussprechen ("Brexit" ist die Kurzform für "British exit" und bezeichnet den EU-Austritt Großbritanniens). Noch nie war die Wahrnehmung der EU derart entkoppelt von ihrem tatsächlichen Einfluss auf Großbritannien.

Lehren von der Insel für den Kontinent

Es besteht jedoch Hoffnung, dass die "Brexit-Debatte" noch auf die komplexe Interessenabwägung eingehen wird, die Großbritannien vornehmen muss, um Mitglied der EU zu bleiben und Reformen durchzusetzen. Wirtschaftsvereinigungen wie "Business for New Europe" (BNE) entstehen zu diesem Zweck und ihre Mitglieder, die Teil des Binnenmarktes bleiben wollen, sind bereit, den Kampf gegen anti-europäische Stimmen zu unterstützen. Wenn es einen erfolgversprechenden Weg gibt, Europapolitik so zu gestalten, dass am Ende für den Verbleib gestimmt wird, dann besteht dieser meiner Meinung nach darin, mit der Verteidigung britischer Interessen im Ausland zu argumentieren.

Da wir dabei sind, die nächste Stufe der europäischen Reform zu erreichen - eine Stufe, die immer stärker nach einem Europa mehrerer Geschwindigkeiten aussieht - wird die Frage, "welches Europa wir wollen", zunehmend auf dem Kontinent diskutiert werden. Die vielleicht wichtigste Lektion, die Deutschland und andere europäische Staaten aus der Brexit-Debatte ziehen können, besteht darin zu erkennen, wie leicht die Bedingungen und Fakten dieser notwendigen Debatte aus den Augen verloren werden können.

Ich bin relativ optimistisch, dass die Briten "euro-interessiert" werden, bevor sie über den Verbleib Großbritanniens in der EU abstimmen müssen. Es wird in Großbritannien häufig argumentiert, dass die EU eine undemokratische Organisation sei, die die Wünsche ihrer Bürger untergrabe. Doch damit ein wahrhaft demokratisches Referendum über die EU in Großbritannien stattfinden kann, dürfen die Fakten nicht länger verborgen bleiben und verzerrt dargestellt werden, so wie dies im Moment der Fall ist.

Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Kooperation "Mein Europa" von Süddeutsche.de mit dem Projekt FutureLab Europe der Körber-Stiftung. Bis zur Europawahl Ende Mai werden in der Serie junge Europäer zu Wort kommen - streitbar, provokativ und vielfältig.

Mathew Shearman, 25, ist politischer Herausgeber des Magazins Europe & Me und arbeitet für New Eastern Europe und Visegrad Insight. Er schreibt über britische und deutsche Außenpolitik, die EU und Osteuropa und war als politischer Analyst für BBC News 24 tätig. Er lebt in London.

An English version of the text is available at the website of FutureLab Europe.

Übersetzung: Dorothea Jestädt

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