Anti-Atom-Proteste im Wendland:Frühling, Sommer, Herbst und Castor

Die Castoren sind auf dem Weg. Etwa 30.000 Menschen werden dieses Jahr im Wendland gegen ihren Transport demonstrieren. Die Renaissance der Bewegung ist auch Folge der von der Regierung beschlossenen Laufzeitverlängerung. Ein Besuch im Landkreis Lüchow-Dannenberg, wo der Protest zum Leben dazugehört.

Hannah Beitzer

Wie jedes Jahr im Herbst holt Gisela Crémer ihren großen Wecktopf aus dem Keller und stellt ihn auf den Herd. Denn wie jedes Jahr im Herbst sind die Castoren wieder unterwegs. Deshalb kreisen Hubschrauber über Crémers Haus und suchen die Umgebung mit Wärmesichtkameras ab, Polizisten mit Schlagstöcken patrouillieren an ihrem Haus vorbei. Und hungrige Demonstranten klopfen an ihre Tür: vermummte Jugendliche, Alt-68er und Motorrad-Rocker. Für sie kocht sie in ihrem Wecktopf eine schnelle Mahlzeit - Suppe oder Eintopf, Hauptsache warm.

Castor, Wendland, Gorleben

Ein ganz normaler Hof eines ganz normalen Hauses im Wendland: Die Gegner des Endlagers werden von der ansässigen Bevölkerung unterstützt.

(Foto: Hannah Beitzer)

Gisela Crémer wohnt in Laase, einem kleinen Dorf im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Laase ist nur vier Kilometer von Gorleben entfernt, wo nach dem Willen der Politik bald ein Endlager für radioaktiven Atommüll in einem Salzstock entstehen soll. Jedes Jahr im Herbst werden die Fässer aus Frankreich hierher transportiert und jedes Jahr versuchen Atomkraftgegner, den Transport zu stören. Die Wendländer rechnen dieses Jahr mit 30.000 Demonstranten. Nach dem Atomkonsens der rot-grünen Regierung war der Protest in Gorleben abgeflaut. Nun erlebt die Bewegung wegen der Laufzeitverlängerung deutscher Atomkraftwerke eine Renaissance.

Gisela Crémer gründete bereits vor vielen Jahren mit einigen Freunden die "Initiative 60" gegen Atomkraft. "Sie heißt so, weil wir bei der Gründung alle um die 60 waren", erzählt sie, "das war 1984." Inzwischen ist Crémer 82 und immer noch eine imposante Erscheinung: Sie hat ein rundes Gesicht, schlohweißes Haar, kräftige Arme und einen mächtigen Busen. Die gebürtige Berlinerin formuliert so präzise und gestochen, als würde sie einen der vielen Leserbriefe diktieren, die sie schon zum Thema Endlager geschrieben hat.

Crémer wird dieses Jahr wieder zur großen Demo am Samstag bei Dannenberg gehen. Bis vor wenigen Jahren hat sie noch bei Sitzblockaden mitgemacht - "doch dann haben mich die Polizisten ein paar Mal auf den Rücken knallen lassen, das kann ich in meinem Alter nicht mehr", erzählt sie.

"Müll mitnehmen"

Solche Erlebnisse hat sie als alter Mensch aber selten. "Einmal bin ich mit zwei anderen Frauen durch den Wald gelaufen und plötzlich stand ein Polizist vor uns", erinnert sie sich, "das war ein riesiger Kerl, ausstaffiert mit Helm und Schild, wie ein Ritter. Er hob seinen Schlagstock und rief: 'Bitte gehen Sie nicht weiter, ich muss sie sonst schlagen'".

Bereits 1972 hat sie sich das verfallene Bauernhaus in Laase gekauft - wie viele Berliner, die Sehnsucht nach der Natur hatten. Damals arbeitete sie als Heilpädagogin, hatte einen schwerkranken Mann und zwei Kinder zu versorgen. Politisch aktiv war sie nicht, für die 68er-Bewegung war sie zu alt und hatte als berufstätige Frau genug zu tun. Doch der Atomkraft stand sie schon immer kritisch gegenüber. "Ich gehöre ja einer Generation an, die Hiroshima und Nagasaki noch miterlebt hat", sagt sie.

Nicht alle Einwohner waren anfangs gegen das Lager. Man lockte die Menschen mit den Arbeitsplätzen, mit Geld für ihr Land und für die Nutzung des Salzstocks. Doch die meisten Wendländer wehren sich seit drei Jahrzehnten stur gegen den Atommüll vor ihrer Tür. Vor jedem zweiten Backsteinhaus im Landkreis steht ein großes gelbes X, in Liegestühlen sitzen lebensgroße Puppen mit Protestplakaten in der Hand: "Müll mitnehmen!", steht da.

Auch die Landwirte protestieren

Selbst eine Bevölkerungsgruppe, die man sonst eher nicht mit der Bürgerbewegung in Verbindung bringt, protestiert gegen das Endlager: die Landwirte. Sie haben sich 1977 zur "Bäuerlichen Notgemeinschaft" zusammengeschlossen. Einer der Atomkraftgegner ist Carsten Niemann. Er lebt und arbeitet heute in Ritzleben, einem Dorf in der benachbarten Altmark, das so klein ist, dass das Navigationssystem es nicht einmal erkennt. Der Bauer sitzt auf einer Holzbank vor dem Haus. Unter dem Tisch döst der Hund in der Sonne, in der Ecke steht ein Kinderwagen mit einem schlafenden Säugling. Niemann sieht mit seiner runden Brille und den gelockten grauen Haaren eher aus wie ein Gymnasiallehrer als ein Bauer. Obwohl er selbst erst 50 Jahre alt ist, ist der Säugling im Kinderwagen schon sein zweiter Enkel.

Castor, Wendland, Gorleben

Traktor in Gorleben: Auch die Landwirte im Wendland beteiligen sich an den Protesten gegen das Endlager.

(Foto: Hannah Beitzer)

Niemann kam 1977 nach dem Abitur aus dem Kreis Celle ins Wendland. Er lernte auf dem Hof seines späteren Schwiegervaters und war wie dieser schon von Anfang an in der bäuerlichen Notgemeinschaft aktiv. "Sie können als Bauer Ihr Land nicht einfach in den Rucksack packen und abhauen, wie das viele Leute nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl gemacht haben", sagt er.

Vor wenigen Wochen schickten die Bauern eine Delegation zur Demo nach Berlin. "Das war sehr schwierig", erzählt Carsten Niemann, "weil im September die Traktoren hier im vollen Einsatz sind." Doch die Bauern nehmen sich trotzdem Jahr für Jahr Zeit für die Demonstrationen. Inzwischen gehört der Protest zu ihrem Leben dazu wie die Saat, die Ernte, das Kühemelken. Sie haben ihn in ihren Jahreslauf integriert: Frühling, Sommer, Herbst und Castor.

"Zieh den Schlüssel ab und lass den Trecker stehen"

Die Landwirte sind für die Bewegung enorm wichtig. Niemand unterstellt ihnen linksalternatives Berufsdemonstrantentum. Am Samstag werden sie wieder mit ihren Traktoren zur größten Kundgebung der Castor-Gegner bei Dannenberg kommen. Auch Niemanns Töchter sind dabei. "Normalerweise opponieren Kinder ja gegen ihre Eltern", sagt er, "doch in dieser Sache sind sie voll mit uns auf einer Linie." Seine inzwischen 20-jährige Tochter habe ihn vor vier Jahren während eines Castor-Transport vom Handy aus angerufen und gefragt: "Papa, was soll ich jetzt machen? Ich bin hier ganz vorne mit dem Traktor und da steht Polizei." Was er ihr geraten habe? Gelassenheit: "Zieh den Schlüssel, steig ab und lass den Trecker stehen. Es ist gut."

Gisela Crémer unterstützt den Widerstand hauptsächlich auf ihrem Grundstück. "Das geht immer zu wie auf dem Rummel", erzählt die alte Frau, "einmal waren während der ganzen Zeit 120 Gäste hier." Sie alle schlafen in der großen Halle des Bauernhofs. Dort ist eine Zwischendecke über etwa einem Drittel der Fläche eingezogen. "Demonstrantendeck" nennt Crémer den niedrigen Raum.

Außerdem hat sie hier mit ihrem Protestchor singendes Wendland neue Texte für alte Volkslieder gedichtet und Liederhefte gedruckt. Ihr Lieblingslied? Gisela Crémer denkt nach und singt: "Das Wendland bleibt frei/ von Kernkraftanlagen" auf die Melodie von Die Gedanken sind frei. Ihre Stimme klingt auf einmal sehr hell, wie die einer viel jüngeren Frau. Ein Gruß aus der Vergangenheit - so ist es für Gisela Crémer immer, wenn sie die alten Liederhefte durchblättert. "Wenn ich die Fotos aus den Gründungsjahren anschaue, dann sind da sehr viele Tote drauf", sagt sie.

In diesem Jahr will sie nicht mehr so viele Demonstranten aufnehmen wie sonst. Nur ihre Söhne und ihre Schwester kommen ins Wendland. Aber den Wecktopf stellt sie wieder auf den Tisch. Und vorsichtshalber hat sie auch die Polster der Gartenstühle in die Halle gelegt. Falls alle Stricke reißen und doch jemand Unterschlupf sucht.

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