Agnes kann man auf dem Evangelischen Kirchentag treffen, wo sie sich von Margot Käßmann begeistern lässt; am Aschermittwoch aber war sie in einer katholischen Kirche und hat sich das Aschekreuz auf die Stirn zeichnen lassen. Ganz eigentümlich war ihr da zumute, wo sie doch kein Kirchenmitglied ist und die meiste Zeit ihres Lebens ohne Religion verbracht hat.
Fatme Ibrahim ist freitags selbstverständlich in der Moschee, das Kopftuch ist streng gebunden; sie hat aber nicht mehr so viel Angst, dass sie nach dem Tod in die Hölle kommt.
Liane Büsing wiederum legt einem die Karten, schaut in den Kaffeesatz, sagt die Zukunft voraus und spricht von den guten Mächten, die sie umgeben. Drei gläubige Frauen leben in Dresden, Berlin und bei Frankfurt. In Deutschland. In dem Land, das am Donnerstag Besuch von Papst Benedikt XVI. bekommt.
Es ist ein Land mitten im Säkularisierungsprozess, sagen die Soziologen, Detlef Pollack aus Münster zum Beispiel. Auch deshalb ist dieser Papstbesuch umstritten: Es gibt genügend Menschen, die mit einem Papst nichts mehr anfangen können. Nur noch 60 Prozent der Deutschen sind Mitglied der evangelischen oder der katholischen Kirche. Zur Zeit der Wiedervereinigung waren es noch 70 Prozent; innerhalb von 20 Jahren haben die beiden großen Volkskirchen mehr als acht Millionen Mitglieder verloren.
In Ostdeutschland gehörten 1989 zwei Drittel der Bevölkerung keiner Kirche an, heute sind es drei Viertel. Bald dürfte es in Deutschland so viele Kirchenmitglieder wie Konfessionslose geben. Und wer weiter Kirchensteuer zahlt, weiß oft trotzdem nicht mehr, ob Moses sieben oder zehn Gebote empfing, auf welchem Berg auch immer, und ob Jesus von der Auferstehung der Toten sprach oder nicht doch von der Wiedergeburt.
Dennoch ist die Bundesrepublik nicht auf dem Weg in den kollektiven Unglauben, sie wird eine Glaubensrepublik bleiben. Einmal, weil die Kirchen trotz des Mitgliederschwunds die größten Institutionen im Land bleiben, weil Kirchen, christliche Kunst, Musik, Philosophie zur Kultur des Landes gehören.
Aber auch, weil der Glaube nicht verschwindet, wenn die Leute aus der Kirche austreten. Deutschlands Frömmigkeit wird vielfältig, wie seine Landschaften es sind, flach und gebirgig, lieblich und schroff, einsames Schilf und Häusermeer. Es wird das Land der vielen Götter, der großen Götter der Weltreligionen und der vielen, kleinen, selbstgemachten und persönlich zusammengesetzten.
Im Land der vielen Götter wohnen Menschen wie Agnes, die nur ihren Vornamen veröffentlicht sehen will, weil ihr das mit dem Glauben doch ein bisschen peinlich ist. Verwaltungsangestellte ist sie und 50 Jahre alt, ein unauffälliger Typ mit kurz gestuften Haaren, Jeans und T-Shirt, aufgewachsen in der DDR mit einer Mutter, die Religion strikt ablehnte, wie kann man da überhaupt an Gott denken?
Und dann kam er doch in ihr Leben, dieser Gott. Nach der Scheidung, dem Zusammenbruch in der Kur, zuerst über die Bücher, die sie las - dann kam Jürgen, sie wurden ein Paar, und Jürgen ist katholisch. Rituale und Diskussionen darüber, was nach dem Tod kommt, findet sie gut, Dogmen schlecht, eine Kirchenmitgliedschaft unvorstellbar. "Mein Glaube muss mein Lebensgefühl wiedergeben", sagt sie. Wie so viele das sagen, die sich irgendwie als Christen fühlen.
Der Glaube der Christen ist individuell geworden, das ist eine tiefgreifende Wende in der Religionsgeschichte. Religion ist nicht mehr so sehr das ordnende System, dem sich der Einzelne unterwirft. Martin Luther trieb die Frage um, ob ein gnädiger Gott auch ihn, den Sünder, in den Himmel aufnehmen oder in die Hölle werfen wird.
Heute erwarten die Christen, dass der Glaube ihr Leben lenkt und leitet, sie an guten und schlechten Tagen hält. Sie glauben, weil es ihnen das eigene Leben zu begründen und zu bestehen hilft. Das hat die Zahl der religiösen Neurosen verringert; die postmodernen Gottesbilder haben dadurch aber auch das Geheimnisvolle, Unbedingte verloren, das Menschen am Glauben fasziniert.
So wächst auch die Zahl derer, die sich an diesem Individualismus stoßen, die die strenge Form des Glaubens entdecken, weil er sie durch die vielen Möglichkeiten des Lebens führt. Sie finden zu konservativen evangelikalen Gruppen, die die Bibel wörtlich auszulegen versuchen, andererseits aber kein Problem damit haben, eine Rockband im Gottesdienst spielen zu lassen.
Oder sie entdecken die klare, strenge Seite der katholischen Kirche wie der Spiegel-Autor Matthias Matussek. Sie sind in diesen Entscheidungen gegen das Individuelle wiederum überraschend individuell: Sie wollen sich vom Mainstream absetzen, ihren höchstpersönlichen Glauben finden.
Die Vorstellungen der Christen vom Christengott sind bunt geworden - und andere sind hinzugekommen. Im Land der vielen Götter leben die muslimischen Zuwanderer, vier Millionen gibt es inzwischen in Deutschland, bis zu 90 Prozent von ihnen bezeichnen sich in Umfragen als mehr oder weniger religiös. Fatme Ibrahim zum Beispiel. Als junge Frau lebte sie in einem palästinensischen Flüchtlingslager und hatte andere Sorgen als die Frage, ob das Kopftuch richtig sitzt.
Zur strenggläubigen Muslimin ist sie erst in Deutschland geworden, und jetzt fürchtet sie, nicht genug für den Glauben getan zu haben, bevor der Tod kommt. Wenn es nun mehr Versäumnisse als gute Taten waren? Mache dir keine Sorgen, sagen die Enkel, du bist doch nach Mekka gepilgert, du wusstest es früher nicht besser.
Anders als bei den Christen sind bei den Muslimen die Jüngeren frommer als die Alten, für sie ist der Islam auch Teil ihrer Identität, Mittel zur Abgrenzung, Hilfe bei der Partnerwahl, Handreichung auf dem Weg ins Paradies. 68 Prozent der jungen Muslime, so sagt der Bertelsmann-Religionsmonitor aus dem Jahr 2008, treibt auch die Angst zum Gebet. Hier lebt noch, wovon sich die Christen verabschiedet haben; nur langsam ändert sich das.
Es gibt wieder mehr als 100.000 Juden in Deutschland, dank der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion. Für sie ist Religion auch Schicksalsgemeinschaft, Zugehörigkeit zum verfolgten Gottesvolk, für die in jedem Gebet der Tempel in Jerusalem fortlebt, den die Römer 70 nach Christus zerstörten.
Es gibt ungefähr 200.000 Buddhisten im Land, die sich ans Nirwana heranarbeiten, und noch viel mehr, die meditieren und Yoga treiben, weil es ihnen irgendwie guttut und der Rest exotische Dreingabe ist. Es leben dort auch die Atheisten, die aus tiefem Glauben heraus sagen: Gott gibt es nicht. Für die erst die Abwesenheit Gottes das Leben wertvoll und einzigartig macht, weil es nur dieses eine Leben gibt.
In dieses Land also kommt Benedikt XVI., der Theologe auf dem Stuhl Petri, der am Tag vor seiner Wahl zum Papst die "Diktatur des Relativismus" beklagte. Er kommt ins Land der Glaubenskomponisten und Glaubensindividualisten, in dem auch die meisten Katholiken sich aus dem großen Schatz ihrer Kirche nehmen, was ihnen frommt.
Es ist das Land, in dem Liane Büsing mehr Kunden hat, als sie eigentlich schaffen kann. 74 Jahre ist sie jetzt alt, eine freundliche Oma und - es klingt wie eine Berufskrankheit - fast blind. Sie sagt den Menschen mit Krankheit, Liebeskummer oder Zukunftsangst, wie es wohl so weitergehen wird, sie legt Karten und liest im Kaffeesatz.
Sie erzählt die Geschichte von dem verzweifelten Mann, der eine Affäre hatte, die ihm sehr leid tat - und wie sie dann, tief in die Karten blickend, der ratsuchenden Ehefrau sagte, sie lese da, wie sehr ihr Mann sie liebe. Und wie sie den Tod ihres Cousins vorhergesehen habe.
Sie ist evangelisch und verehrt die Gottesmutter Maria in katholischer Inbrunst, sie sieht sich gehalten von unbegreifbaren Mächten zwischen Himmel und Erde, einen Zufall gibt es für sie nicht, alles ist Fügung. Natürlich passt das zusammen, sagt sie. Benedikt würde da ein bisschen zucken, säße er Liane Büsing in ihrer Hochhauswohnung gegenüber.
Ein eigentümliches Land also, diese Republik, die in der kommenden Woche ziemlich viel über Glaube und Unglaube diskutieren wird, darüber, wie viel Religion das Land braucht und wie viel Distanz zur Religion. Und vielleicht auch über etwas Tieferes: die Kraft des Transzendenten, die Menschen über das Nächstliegende und Nützliche hinaus denken und handeln lässt. Ohne die dieses Land sehr viel ärmer, kälter und auch langweiliger wäre. Eine Kraft, die die so verschiedenen Gläubigen manchmal stärker verbindet, als sie selber es merken: Agnes und Fatme Ibrahim, Liane Büsing und - Papst Benedikt.