Als am 22. Juli 2016 beim Anschlag auf das Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen starben, legten sich die Behörden schnell fest: Es sei ein unpolitischer Amoklauf gewesen. Jahrelang kämpften die Angehörigen dafür, dass der politische Hintergrund des Täters berücksichtigt wird. Er beging seine Tat genau fünf Jahre nach den Anschlägen des Rechtsterroristen Anders Behring Breivik in Norwegen mit der gleichen Waffe, er war Hitler-Verehrer und sympathisierte mit der AfD. Obwohl all das bekannt war, dauerte es mehr als drei Jahre, bis das Bayerische Landeskriminalamt am 25. Oktober 2019 feststellte, dass es ein rechtsextremer Anschlag war.
Die Sozialpädagogin Anja Spiegler von der Beratungsstelle "Before" begleitet seit Jahren Hinterbliebene der Opfer und hilft ihnen dabei, den Verlust aufzuarbeiten und wieder in den Alltag zu finden.
SZ: Frau Spiegler, ein Jahr nach der Neubewertung der Tat: Was hat diese Neubewertung für die Angehörigen bedeutet?
Spiegler: Die Hinterbliebenen konnten da zum ersten Mal ein bisschen zur Ruhe kommen. Sie haben gesehen, dass ihr Protest, den rechten Hintergrund der Tat anzuerkennen, endlich erhört wurde. Eine ihrer wichtigen Antworten wurde endlich beantwortet. Jahrelang war das "Warum?" ungeklärt oder wurde verschwiegen. Deswegen konnten viele damals erst so richtig mit der Aufarbeitung beginnen.
Wieso ist die Einordnung der Tat für die Angehörigen so wichtig?
Das ist die zentrale Frage bei der Aufarbeitung eines solchen Traumas. Viele Eltern haben bei dem Anschlag ihre Kinder verloren und sie wollen wissen warum. Wenn das von den Behörden verweigert wird, fühlen sich die Betroffenen nicht ernst genommen. Das ist für viele ein zusätzlicher Schmerz. Und sie können auch nicht damit abschließen. Wenn nämlich die politischen Hintergründe einer Tat wie in München verschwiegen werden, dann löst das bei den Angehörigen große Unsicherheit aus, weil sie Angst haben, dass so ein Anschlag noch mal passieren könnte. Und es kamen ja tatsächlich noch weitere dazu. Halle und Hanau.
Ist also auch die Arbeit der Behörden bei der Trauma-Verarbeitung wichtig?
Die Behörden sind dabei entscheidend. Die Angehörigen sehen in ihnen die Repräsentanten der Gesellschaft, die eigentlich die Aufgabe hat, sie zu schützen. Nach einem Fall wie am OEZ brauchen sie dann von den Behörden Unterstützung vom ersten Tag an. Viele Menschen, die dort ihre Kinder oder ihre Mutter verloren haben, können heute nicht mehr arbeiten und sind noch immer schwer traumatisiert. Sie brauchen also nicht nur Therapieangebote, sondern auch oft finanzielle Hilfe, um wieder in den Alltag zu finden. Wenn aber die Behörden den Hintergrund der Tat jahrelang entpolitisieren, dann denken viele Hinterbliebene, ihre Perspektive sei nicht wichtig. Es ist aber die Aufgabe der Behörden, die Perspektive der Angehörigen zu verstehen und sie zu berücksichtigen.
Sind die Behörden sensibel für diese Perspektive?
Mir machen rechte Chatgruppen, etwa bei der Polizei, schon große Sorgen. Weil es diese Menschen sind, die mit Opfern von rechter Gewalt und Rassismus zu tun haben. Sie müssen die Perspektive der Opfer verstehen. Ich glaube aber, dass das kein reines Problem der Behörden ist, sondern eines der ganzen Gesellschaft. In einem Land, in dem die Mehrheit weiß ist, fehlt oft das Bewusstsein für die Opferperspektive. Wir hinterfragen zu wenig, dass es nicht selbstverständlich ist, nicht von Rassismus betroffen zu sein. Die Mehrheitsgesellschaft weiß nicht, wie es sich anfühlt, Rassismus zu erfahren und erkennt deswegen auch seine Strukturen und Gefahren nicht. Deswegen wurde nach dem OEZ auch die Perspektive der Opfer oft ausgeblendet. Ob es ein Amoklauf oder ein rechtsextremer und rassistischer Anschlag war, hat für viele Menschen keine Rolle mehr gespielt.
Was ist den Angehörigen der Opfer heute, mehr als vier Jahre nach der Tat, wichtig?
Das ist sehr unterschiedlich. Wichtig für die Opferperspektive ist nämlich auch: Die Überlebenden und Hinterbliebenen sind keine einheitlichen Gruppen, die nach so einem Trauma alle dieselben Bedürfnisse haben. Was sie wollen und was ihre Bedürfnisse sind, ist oft sehr individuell. Aber all den Menschen, die am OEZ jemanden verloren haben, ist es wichtig, dass die Tat nicht vergessen wird. Sie wollen, dass sie präsent bleibt.