Anschlag in NRW:Warum war der mutmaßliche Attentäter von Solingen noch in Deutschland?

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Polizisten bringen Issa al-H. am Sonntag zum Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. (Foto: Thomas Kienzle/AFP)

Ein Syrer soll in der Stadt in Nordrhein-Westfalen drei Menschen erstochen haben. Ursprünglich war Bulgarien für sein Asylverfahren zuständig. Doch die Ausweisung scheiterte – so wie bei Tausenden anderen Geflüchteten.

Von Kassian Stroh, Markus Balser, Constanze von Bullion

Hat die Polizei versagt in Nordrhein-Westfalen? Hätte der Tatverdächtige Issa al-H. zum Zeitpunkt des Anschlags von Solingen noch in Deutschland sein dürfen? Diese Frage stellt sich, seit der 26-jährige Syrer zugegeben hat, in Solingen drei Menschen erstochen zu haben. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) schloss am Sonntagabend nicht aus, dass den Behörden ein Fehler unterlaufen sein könnte. „Wenn da irgendwo was schiefgelaufen ist, bei welcher Behörde auch immer, ob vor Ort in Bielefeld, in Paderborn oder bei Landes- oder Bundesbehörden, dann muss die Wahrheit da auf den Tisch“, sagte er. Nur – gab es überhaupt ein Versagen? Und welches?

Klar ist: Eigentlich sollte der Tatverdächtige Issa al-H. im Juni 2023 nach Bulgarien abgeschoben werden, weil sein Asylantrag in Deutschland, wohin er 2022 gekommen war, abgelehnt worden war. Der Syrer war über Bulgarien in die EU eingereist – somit war nach europäischem Asylrecht Bulgarien für ihn zuständig. Dorthin sollte Issa al-H. zurück.

Eine solche Abschiebung ins Einreiseland heißt offiziell „Überstellung“, und dafür gibt es Fristen: Sie muss innerhalb von sechs Monaten erfolgen. Andernfalls ist nicht mehr das Einreiseland (hier: Bulgarien) für das Asylverfahren zuständig, sondern das Land, in dem der Geflüchtete lebt (hier: Deutschland).

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Issa al-H., der Mitte 2023 noch in Paderborn wohnte, sollte also schnell nach Bulgarien überstellt werden, doch Behörden trafen ihn am Abschiebetag nicht an. Die Frist von sechs Monaten lief ab. Schließlich bekam der Mann Ende 2023 subsidiären Schutz, der ihm erlaubte, vorerst in Deutschland zu bleiben, und kam nach Solingen. Der Status für Asylbewerber bedeutet, dass keine persönliche oder politische Verfolgung nachgewiesen ist, Behörden aber Gefahr für Leib oder Leben sehen, etwa weil in Syrien Krieg herrscht. Viele Flüchtlinge aus Syrien leben in Deutschland mit subsidiärem, also eingeschränktem Schutz.

Das Beispiel des Syrers facht nun die Debatte über härtere Abschieberegeln an. Denn Zehntausende kommen Jahr um Jahr nach Deutschland, obwohl sie schon in einem anderen EU-Land als Flüchtlinge registriert sind – und damit in diese Länder zurückgeführt werden könnten. Aus dem Vorhaben aber wird oft nichts. Erst kürzlich beklagte Bundespolizeipräsident Dieter Romann öffentlich, dass seine Leute viel zu oft den Auftrag hätten, Menschen zu überstellen oder abzuschieben, dies aber nicht durchsetzen könnten, etwa weil die Personen nicht angetroffen würden.

Die Zahl solcher Fälle ist groß. So hat Deutschland im Jahr 2023 für fast 75 000 Asylantragsteller ein Übernahmeersuchen an andere EU-Mitgliedstaaten gestellt. Tatsächlich vollzogen wurden jedoch nur gut 5000 Überstellungen. Fast 39 000 Rückführungen scheiterten daran, dass deutsche Behörden die Überstellungsfrist von sechs Monaten nicht einhalten konnten. In 9000 Fällen lag das daran, dass andere EU-Mitgliedsstaaten die Menschen nicht aufnehmen wollten. In fast 8000 Fällen waren die Betroffenen aber auch untergetaucht oder einfach nicht anzutreffen. In diesem Jahr sieht es laut Bundesinnenministerium kaum besser aus. Von fast 37 000 Abschiebeersuchen wurden bislang nur 3000 umgesetzt.

Was bedeutet „flüchtig“ im rechtlichen Sinn?

Nach dem Fall Solingen stellt sich damit auch die Frage: Müssen Behörden solche Rückführungen generell mit mehr Tempo und Personal vorantreiben? Und wie energisch wurde eigentlich nach Issa al-H. gesucht? Die Bild-Zeitung berichtet, ohne eine Quelle zu nennen, die Beamten seien nur einmal in der Unterkunft aufgetaucht und wieder abgezogen, als sie ihn dort nicht antrafen. Ob das stimmt, konnte das zuständige Ministerium in NRW zunächst nicht beantworten. Die Frage ist aber relevant, weil die Überstellungsfrist verlängert wird, wenn die Person bewusst untertaucht, wenn sie „flüchtig“ ist, wie es in der dafür maßgeblichen Dublin-Verordnung heißt. Dann nämlich beträgt die Überstellungsfrist 18 Monate. Sprich: In diesem Fall hätte Issa al-H. auch 2024 noch nach Bulgarien gebracht werden können.

Hier gibt es nun einen juristischen Interpretationsspielraum, was als „flüchtig“ zu bezeichnen ist. Dass ein Mann einmal, wenn Beamte vor der Tür stehen, nicht in der Unterkunft weilt, scheint dafür nicht zu reichen. In einem Urteil von 2021 verweist das Bundesverwaltungsgericht auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH): Flüchtig ist demnach, wer „sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln“. Hat er nur die Wohnung verlassen, ohne das der Behörde vorher zu sagen, reicht das nicht.

Wüst: „Da muss Klartext gesprochen werden.“

Das heißt: Hätten die Behörden öfter und intensiver nach Issa al-H. gesucht, hätten sie ihn entweder gefunden und nach Bulgarien überstellen können – oder aber er wäre als untergetaucht und „flüchtig“ registriert worden, sodass er auch Monate später hätte abgeschoben werden können. So aber musste Issa al-H. nur sechs Monate warten – und durfte dann in Deutschland bleiben. Er war der Polizei auch nie als Straftäter aufgefallen, womöglich sah man deshalb wenig Handlungsdruck, ihn zu finden. Laut Bild meldete der Syrer sich bei den Behörden vier Tage, nachdem die sechsmonatige Überstellungsfrist ausgelaufen war.

Ein Versagen der Polizei jedenfalls mochte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) nicht erkennen. Denn zuständig für die Planung von Abschiebungen in NRW ist nicht sein Haus, sondern das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration. Dort werden Rückführungstermine geplant, bevor die Polizei bestellt wird, um sie durchzuführen. Ob im Fall Issa al-H. Fehler passiert sind, blieb im Integrationsministerium bis Montagabend unbeantwortet. Man prüfe die Sache noch. Dabei hatte NRW-Ministerpräsident Wüst eigentlich Aufklärung versprochen. „Da muss Klartext gesprochen werden, wenn da etwas schiefgelaufen ist“, sagte er.

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