Süddeutsche Zeitung

Anschlag in Kabul:Wenn Schrecken Alltag ist

  • Am frühen Morgen haben Unbekannte im Botschaftsviertel Kabuls ein Bombenattentat verübt.
  • 90 Menschen starben, mehr als 400 wurden verletzt, viele von ihnen schwer.
  • Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 2016 fast 11 500 Zivilisten getötet oder verwundet - ein Höchstwert.

Von Tobias Matern

Der Mann aus dem Ministerium begann seinen Tag wie immer mit einem Spaziergang zum Arbeitsplatz durch Wazir Akbar Khan, eines der deutlich besseren Viertel Kabuls. Er passierte den Zanbaq-Platz, der an das mit dicken Mauern gesicherte Botschaftsviertel in Kabul grenzt. Exakt vier Minuten später, erzählt der afghanische Regierungsbeamte, hatte er das Gelände seines Ministeriums betreten, auf dem Weg in sein Büro hörte er plötzlich den ohrenbetäubenden Knall, spürte eine Erschütterung, die ihn zu Boden warf. "Wir versuchen in Afghanistan immer, die Hoffnung zu bewahren, aber es gibt einfach kein Zeichen der Hoffnung", sagt der Mann der Süddeutschen Zeitung ein paar Stunden später. Namentlich genannt werden wollte er nicht - aufgrund seines Postens in der Regierung.

Kabul, 8.22 Uhr, am Mittwoch: Ein paar Meter vor dem Diplomatenviertel zündet ein Attentäter einen mit Sprengstoff beladenen Wassertanklaster. Vor allem die deutsche Botschaft wird getroffen, viele Scheiben der Vertretung zerspringen, auch die Chinesen und Japaner melden Schäden. Mindestens 90 Menschen fallen dem Attentat zum Opfer, mindestens 400 sind dabei verletzt worden. Von offizieller Seite heißt es, die Zahl der Toten könne noch steigen, so viele Schwerverwundete gebe es zu beklagen.

Unter den Opfern ist auch ein afghanischer Wachmann, der die deutsche Botschaft sicherte, und ein afghanischer Fahrer der britischen BBC, zudem wurden vier Journalisten des Senders verletzt. Nach Angaben der Nato hätten afghanische Sicherheitskräfte den Laster daran hindern können, in das diplomatische Viertel hineinzufahren. Es handelte sich am Mittwoch um eine besonders schwerwiegende Attacke in einer Stadt, die regelmäßig von Anschlägen heimgesucht wird. Nach Angaben des Senders Tolo News sind Geschäfte und Büros in einem Radius von einem Kilometer durch die Explosion der Bombe beschädigt. Dutzende Autos brannten aus, die Rettungskräfte versuchten, blutüberströmte Menschen so schnell wie möglich in die Krankenhäuser zu bringen.

Normalerweise erklären sich Attentäter schnell in Afghanistan

Das Botschaftsviertel ist ein symbolträchtiger Ort für einen Angriff der Extremisten, hier stehen auch der Präsidentenpalast und afghanische Ministerien. Staatschef Aschraf Ghani geißelte die Tat mit scharfen Worten: Selbst im heiligen Fastenmonat Ramadan, "dem Monat der Güte, der Segnung und des Gebets", schreckten die Terroristen nicht davor zurück, Unschuldige zu töten, hieß es in einer Erklärung des Palastes.

Normalerweise erklären sich Attentäter in Afghanistan schnell nach einem Anschlag, sie wollen maximale Aufmerksamkeit erzielen und ihre Unbeugsamkeit im Kampf gegen die afghanische Regierung unter Beweis stellen. Doch die Taliban, die vor allem im Norden und Süden des Landes ihre Macht in den vergangenen Monaten ausbauen konnten, verbreiteten am Mittwoch eine Stellungnahme, in der es hieß, sie hätten die Attacke nicht verübt.

Für den hochrangigen Vertreter der Kabuler Regierung steht hingegen fest, dass sehr wohl die Taliban und das Nachbarland Pakistan für die Attacken verantwortlich seien. So sollten Chaos und Terror in Afghanistan verbreitet werden, sagte er. Beweise für seine These nannte er indes nicht. Denkbar ist auch, dass der sogenannte Islamische Staat (IS) hinter der Attacke steckt. Der IS ist vor allem im Osten Afghanistans stark. Die USA haben jüngst ihre massivste konventionelle Bombe auf ein Versteck der Extremisten abgeworfen.

Für die Menschen am Hindukusch ist die Frage nach den Tätern unbedeutend, für sie zählt nur, dass ihr Alltag nach wie vor von Angst und Schrecken geprägt ist. Der Regierungsbeamte sagte, seine Frau rufe ihn aus Sorge um sein Wohlergehen auch an normalen Tagen mehrmals täglich an - selbst wenn die Nachrichten nicht von Horroranschlägen wie am Mittwoch dominiert werden. Auch um die beiden Kinder machten sie sich permanent Sorgen. "Wir sind schockiert und am Boden zerstört", drückte der Mann das Lebensgefühl vieler Menschen in Kabul aus. "Wir gehen morgens aus dem Haus, wissen nicht, was draußen passieren wird und sind nicht einmal sicher, ob wir abends nach Hause kommen werden", sagte ein afghanischer Journalist in Kabul.

Laut den UN wurden 2016 fast fast 11 500 Zivilisten getötet oder verwundet

Seit dem Sturz der Taliban vor knapp 16 Jahren sind ausländische Truppen in Afghanistan. Barack Obama hatte das Ende des Kampfeinsatzes - innenpolitisch motiviert - für Ende des Jahres 2014 bestimmt. Im Moment sind noch etwa 13 000 ausländische Soldaten in Afghanistan stationiert, ihr Hauptaufgabe ist es, die afghanischen Sicherheitskräfte für den Kampf gegen die Aufständischen zu trainieren.

Doch ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht, allein die Zahlen beschreiben eine triste Realität: Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 2016 fast 11 500 Zivilisten getötet oder verwundet - ein Höchstwert. Auch die afghanische Armee zahlt einen hohen Blutzoll für ihr Bemühen, das Land gegen die Islamisten zu verteidigen: Im Januar und Februar dieses Jahres starben nach Zählungen des US-Beauftragten für den Aufbau in Afghanistan (Sigar) 807 Soldaten, 2016 waren es 6500 Mitarbeiter des afghanischen Militärs. "Ein tödlicher Krieg hat Afghanistan im Griff", heißt es im jüngsten Sigar-Bericht, die hohen Verlustzahlen seien "schockierend".

Mit aller Macht hat Staatschef Ghani versucht, die Taliban zu Verhandlungen zu bewegen - bislang vergeblich. Afghanistan und Pakistan bezichtigen sich gegenseitig für die Instabilität im jeweils anderen Land verantwortlich zu sein. Die Führung des US-Militärs hat Donald Trump jüngst gebeten, das Kontingent am Hindukusch um bis zu 5000 zusätzliche Soldaten aufzustocken. Auch andere Nato-Staaten könnten dem Beispiel folgen, wenn der US-Präsident dem Rat folgt.

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SZ vom 01.06.2017/jly
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