Süddeutsche Zeitung

Anschlag in der Türkei:Ein Kind - für den Terror missbraucht

  • Bei einem Anschlag auf eine Hochzeit im kurdisch geprägten Südosten der Türkei sind 51 Menschen gestorben, 69 wurden verletzt.
  • Staatspräsident Erdoğan zufolge wurde das Selbstmordattentat von einem 12 bis 14 Jahre alten Kind verübt.
  • Zuvor hatte er bereits die Terrormiliz Islamischer Staat für den Angriff verantwortlich gemacht.

Von Luisa Seeling

Sie halten sich an den Händen, sie tanzen. Dann ein gigantischer Knall vor den Fenstern. Video-Aufnahmen von der Hochzeitsfeier am Samstagabend im südtürkischen Gaziantep zeigen, wie Menschen in Panik auseinander- und eine Treppe hinunterlaufen. Sie haben Glück, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht draußen aufhalten, auf der Straße, wo gegen 23 Uhr inmitten der Hochzeitsgesellschaft der Sprengsatz detoniert. Er tötet mindestens 51 Menschen, darunter Kinder, und verletzt fast 70 weitere. Fernsehbilder zeigen Leichen, notdürftig bedeckt mit weißen Tüchern. Daneben trauernde Angehörige. Das Brautpaar, das aus der Region Siirt stammt, überlebt leicht verletzt. "Sie haben unsere Hochzeit in ein Blutbad verwandelt", sagt die Braut der Nachrichtenagentur Anadolu.

Noch hat sich niemand bekannt zu dem Anschlag. Der türkische Präsident verkündete am Sonntag erste Erkenntnisse zum Täter: Ein Kind zwischen 12 und 14 Jahren habe sich selbst in die Luft gesprengt. Zuvor hatte Recep Tayyip Erdoğan bereits die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) für den Angriff verantwortlich gemacht, sie sei "der wahrscheinlichste Täter", sagte er in der Nacht zum Sonntag. Beybahçe, wo die Hochzeitsfeier stattfand, ist ein kurdisch geprägtes Viertel.

Die prokurdische Oppositionspartei HDP teilte mit, die Familie des Bräutigams habe in der Partei mitgearbeitet, unter den Gästen seien Parteimitglieder gewesen. Der Schluss liegt nahe, dass der Anschlag gezielt Kurden oder HDP-Anhänger treffen sollte. "Wir verurteilen und verdammen diejenigen, die diese Attacke verübt haben, und die Kräfte und Ideologien hinter ihrem Handeln", teilte die Partei mit.

Die Behörden machten den IS verantwortlich

Immer wieder sind im vergangenen Jahr kurdische Versammlungen Ziel von Anschlägen geworden - in Diyarbakır im Mai 2015, als Unbekannte kurz vor der Parlamentswahl bei einer HDP-Veranstaltung eine Bombe zündeten, oder in Suruç, wo im Juli vergangenen Jahres ein Attentäter 33 prokurdische Aktivisten mit in den Tod riss. Die Behörden machten den IS verantwortlich, die Kurden warfen dem Staat vor, sie nicht hinreichend vor den Extremisten zu schützen.

Nach dem Attentat von Suruç brach der Friedensprozess im Kurdenkonflikt endgültig zusammen, seither toben im Südosten des Landes wieder Kämpfe zwischen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und der Armee. Auch für den Anschlag im Oktober 2015 auf eine Friedensdemo in Ankara mit mehr als hundert Toten, darunter viele HDP-Anhänger, machte die Regierung den IS verantwortlich. Der allerdings schweigt - die Organisation hat sich bisher zu keinem der ihr zugeschriebenen Anschläge bekannt.

Der IS ist nicht die einzige Gruppe, die das Land mit Terror überzieht. Einige der jüngeren Attentate werden der PKK-Splittergruppe TAK zugerechnet, wie jenes auf einen Militärkonvoi in Ankara im Februar. Erst in der vergangenen Woche starben bei drei gegen die Sicherheitskräfte gerichteten Anschlägen im Südosten zwölf Menschen, darunter zwei Zivilisten. Die Attacken werden der PKK zugerechnet.

Terrorgefahr unterschiedlicher ideologischer Prägung

Die türkischen Behörden tun sich offenkundig schwer damit, der Terrorgefahr unterschiedlicher ideologischer Prägung Herr zu werden. Erdoğan sagte in der Nacht zu Sonntag, die Täter von Gaziantep versuchten, die Bevölkerung aufzuhetzen, indem sie "ethnische und religiöse Empfindlichkeiten" für ihre Zwecke nutzten. Es gebe nur eine Botschaft: "Ihr werdet keinen Erfolg haben!" Zwischen dem IS, der PKK und der Gülen-Bewegung gebe es dabei keinen Unterschied, sagte Erdoğan. Die Regierung macht das Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich.

Sollte wirklich der IS hinter dem Anschlag von Gaziantep stecken, könnte es sich um einen Racheakt handeln. Aus Sicht der Terrormiliz führen die Kurden in der Türkei und in Syrien einen gemeinsamen Kampf. Die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG), ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS in Syrien, haben in den vergangenen Wochen einige militärische Erfolge gefeiert. Vor ein paar Tagen eroberten sie die nordsyrische Stadt Manbidsch vom IS zurück. Gaziantep ist nur 60 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Die 1,8-Millionen-Einwohner-Stadt ist in den vergangenen Jahren zu einer Hochburg syrischer Assad-Gegner geworden; auch die IS-Terrormiliz soll Gaziantep als Rückzugs- und Rekrutierungsort genutzt haben - lange Zeit relativ unbehelligt von den türkischen Behörden.

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SZ vom 22.08.2016/fie
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