Süddeutsche Zeitung

Anschlag auf Sergej Skripal:"Als würde jemand absichtlich seinen Fingerabdruck am Tatort hinterlassen"

  • Die britische Regierung ist sich sicher, dass der Ex-Doppelagent Sergej Skripal und seine Tochter mit einem Giftkampfstoff attackiert worden sind, den nur Russland herstellen kann.
  • Das Mittel wurde bereits im Zeitalter des Kalten Kriegs entwickelt und ist daher westlichen Geheimdiensten bekannt.
  • Politiker vermuten, dass Russland mit dem Einsatz des Gifts die Botschaft senden wollte, bereit zu sein, sich zu seinem Vorteil über Regeln hinwegzusetzen.

Von Cathrin Kahlweit, London, und Georg Mascolo

Theresa May ist ein kalkuliertes Risiko eingegangen. Als sie am späten Montagnachmittag an das Rednerpult im Unterhaus trat, um den Briten mitzuteilen, dass die Urheber des Angriffs auf Sergej Skripal und seine Tochter mit hoher Wahrscheinlichkeit in Russland sitzen, gab sie keine Details preis. Sie legte keine Belege vor, die jemand hätte anzweifeln können. Die Nation musste ihr in dieser Frage der nationalen Sicherheit glauben. Oder auch nicht.

May sagte, das Gift, mit dem die Skripals im englischen Salisbury angegriffen wurden, sei ein militärischer Kampfstoff, der nur in Russland hergestellt werde. Was sie nicht offenlegte - oder was die Behörden vielleicht bislang nicht wissen, ist: Wie kam dieser Stoff nach Großbritannien? War der Täter ein russischer FSB-Agent, ein hiesiger Schläfer, oder waren es gar andere Kriminelle? Wie wurden die winzigen Spuren des Nervengases, die ausreichen, um einen Menschen zu töten, auf Sergej und Julia Skripal übertragen?

Bei solchen Kampfstoffen gehen die Täter ein hohes Risiko ein, sich selbst zu vergiften

Diverse britische Medien verbreiten darüber unterschiedliche Erkenntnisse: Der Kampfstoff sei auf einen Blumenstrauß gesprüht worden oder bei Skripal daheim in einem vergifteten Päckchen angekommen oder beim Drink in der Kneipe "The Mill", wo Spuren des Giftes gefunden wurden, auf die Kleidung geträufelt worden. Bekannt ist nur, dass der Tisch im italienischen Restaurant "Zizzi", in dem Vater und Tochter am 4. März aßen, so kontaminiert war, dass er von Giftwaffenexperten zerstört werden musste.

Dass May und Innenministerin Amber Rudd, die sich am Dienstag erneut mit den Spitzen von Geheimdienst und Armee traf, bisher keine weiteren Informationen offengelegt haben, dürfte ermittlungstaktische Gründe haben. Im Falle des 2006 von einem russischen Agenten ermordeten Überläufers und Putin-Gegners Alexander Litwinenko dauerte es Monate, bis die Beweise zusammengetragen waren. Und aufgrund politischer und juristischer Hindernisse sogar Jahre, bis eine unabhängige Untersuchung zu dem Fall abgeschlossen werden konnte.

Am Montag war der russische Botschafter ins Londoner Außenministerium einbestellt worden, um ihm im Fall Skripal ein Ultimatum der britischen Regierung zu übermitteln. Sollte Moskau nicht bis Dienstag um Mitternacht erklären können, wie ein verbotenes Nervengas aus Russland auf britischen Boden geraten und gegen britische Bürger eingesetzt werden konnte, werde das Königreich weitreichende Sanktionen ergreifen.

Moskau reagierte auf die Anschuldigungen aus London mit Hohn und Spott. Nachdem die Sprecherin des Außenamtes direkt nach Mays Rede von einer "Provokation" gesprochen hatte, ließ Außenminister Sergej Lawrow am Dienstag wissen, Moskau habe von den britischen Behörden bisher "keinen Zugang zu der Substanz bekommen" und verweigere jede Erklärung, bevor es dazu nicht gekommen sei. Ohnehin habe man damit nichts zu tun. Staatschef Wladimir Putin, der kurz vor der Präsidentschaftswahl auf Wahlkampfreise war, sagte einem BBC-Reporter, Großbritannien solle die Sache gründlich untersuchen, dann werde man reden.

Und so bleiben einige Fragen vorerst unbeantwortet. Für eine Exekution werden geächtete Chemiewaffen eher selten benutzt. Sie sind hochtoxisch, und die Täter gehen ein hohes Risiko ein, sich selbst zu vergiften. Aber warum sollte Russland ausgerechnet eine Waffe eingesetzt haben, deren Spur so leicht zurückzuverfolgen ist?

Diese Generation Chemiewaffen wurde im Kalten Krieg entwickelt, Überläufer haben westlichen Geheimdiensten ihre Existenz und Zusammensetzung verraten. Für einen der Wissenschaftler, der über das Programm namens Nowitschok berichtete und dafür in Russland vor Gericht kam, setzte sich die Bundesregierung ein. Die Erkenntnisse der Überläufer gingen auch an den britischen MI 6 und von dort zu den Experten des britischen Forschungsinstituts Porton Down.

Vermutlich ist dies einer der Gründe, warum die Substanz nun so schnell zu identifizieren war. "Eigentlich ist das, als würde jemand absichtlich seinen Fingerabdruck am Tatort hinterlassen", sagt ein hochrangiger Sicherheitsexperte. Zugleich würde allein der Beweis der Existenz dieser aus Russland stammenden Waffe den Kreml bloßstellen. Tory-Politiker, etwa der frühere Sicherheitsberater der Regierung, Lord Ricketts, vermuten jedoch, dass genau dies die Absicht hinter dem Einsatz eines hochtoxischen Kampfstoffes in einer britischen Kleinstadt gewesen sein könnte: eine demonstrative Drohung, dass Moskau bereit sei, sich zum eigenen Nutzen über Regeln hinwegzusetzen.

London bereitet nun eine lange Liste mit möglichen Sanktionen vor

Spekulationen darüber, ob Moskau regelmäßig und skrupellos Agenten liquidieren lässt, die in Russland als "Vaterlandsverräter" gebrandmarkt werden, dürften sich erübrigen - angesichts der Bereitwilligkeit, mit der die russische Regierung selbst solche Aktionen legitimiert und öffentlich rechtfertigt. Die britische Regierung hat dementsprechend nun angekündigt, sich erneut mit vier dubiosen Todesfällen zu befassen, bei denen russische Staatsbürger im Königreich umkamen.

Während also die Briten über die Hintergründe des Anschlags rätseln, bereitet die Regierung in London die Präsentation einer langen Liste von Sanktionen gegen Moskau vor. May will sie an diesem Mittwoch im Parlament vortragen und hat betont, alles komme auf den Tisch - von einem Boykott der Fußball-WM über Cyber-Angriffe, Einreise-Verbote und das Einfrieren von Vermögen bis hin zum Lizenz-Entzug für den russischen Propaganda-Sender RT. Im RT-Programm waren bislang regelmäßig Parlamentarier von Tories und Labour aufgetreten; damit, schworen sie sich gegenseitig im Unterhaus, solle nun endlich Schluss sein. Ärger - auch von den eigenen Leuten - handelte sich dabei insbesondere Labour-Chef Jeremy Corbyn ein, der eine Zeitlang häufig bei RT zu Gast gewesen war.

Anstatt Theresa May zu ihrer staatstragenden Rede zu gratulieren, wie es viele seiner Parteikollegen ausdrücklich taten, forderte er einen "robusten Dialog" mit Moskau. Die Spannungen dürften durch scharfe Reaktionen oder gar einen Abbruch der Beziehungen nicht noch verschärft werden. Corbyn warf den Tories außerdem vor, sie hätten sich in der Vergangenheit von russischen Oligarchen kaufen lassen.

Tatsächlich macht sich mit Blick auf die Sanktionspläne der Regierung bereits jetzt Skepsis breit. Die Times brachte am Dienstag unter der Überschrift "Robuste Reaktion" einen Cartoon, der Theresa May zeigt, wie sie Wladimir Putin mit Staubwedeln verprügelt. Der kann sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2018/jael
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